Aus- einander- setzung mit Gewalt
Die hier vorgestellte Untersuchung ‘Aus- einander- setzung mit Gewalt’ führt auf der Basis des Orgonomischen Funktionalismus eine neue Perspektive in die Gewaltdebatte ein.
Die gewalttätigen Jugendlichen und der gewaltthematisierende Mainstream werden in den spezifischen Aspekten und in der Interaktion charakterisiert.
Neben den Unterschieden wird aber auch die Identität beider Seiten herausgearbeitet.
Erst aufgrund dieser umfassenden Perspektive können Schritte aus der periodisch auftretenden Gewaltproblematik entwickelt werden.
Gewalttätige Ausgegrenzte
Auf der Basis autobiografische narrativer Interviews kann die Perspektive gewaltkrimineller Jugendlicher ausführlich analysiert werden.
Es werden vier 'Typen der Ausgrenzungsbearbeitung' und entsprechende Beispielbiografien präsentiert.
Ausgehend von diesen komplexen Daten wird der Weg zur zugrundeliegeden Funktion 'Ausgegrenzte Bewegung' beschrieben.
Gewaltthematisierender Mainstream
Die den Tätern gegenüberstehende Perspektive wird anhand populärer Erklärungsansätze und als selbstverständlich mittradierte Modelle thematisiert.
Insbesondere wird so der Desintegrationsansatz (Heitmeyer), die Kontrolltheorie (Hirschi), das Gewaltmonopol (Hobbes) und der Zivilisiationsprozess (Elias) analysiert.
Alle Modelle werden in ihren Eigenständigkeiten und Gegensätzen dargestellt. Darüber hinaus werden sie auf eine allen zugrunde ligende Funktion der 'Autotranszendenz' zurückgeführt.
Die Bremsung
Auf dieser Seite geht es um die Funktion, die sowohl der Perspektive der Gewalttäter als auch die des gewaltthematisierenden Mainstream zugrunde liegt.
In dieser Funktion sind sie identisch.
Diese Funktion wird insbesondere mit Hilfe verschiedener Animationen dargestellt.
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Aus-einander-setzung mit Gewalt: Der Kampf um den Limes der Gesellschaft |
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Dieser Text wurde in ähnlicher Form zuerst im Kriminologischen Journal veröffentlicht. [1] Jugendgewalt
ist ein periodisch wiederkehrendes Thema in der Öffentlichkeit. Umfassende
Erklärungsansätze spielen dabei eine wesentliche Rolle. An den populären
Ansätzen von Heitmeyer und von Hirschi / Gottfredson wird gezeigt, daß
diese im Wesentlichen, ganz in der Tradition von Hobbes, die Ausgrenzung
der Barbaren vorantreiben. |
[1] Diedrich, I./ Meyer, A./ Rössner, D.: Der Kampf um den Limes der Gesellschaft - eine Kritik der Kontrolltheorie und des Desintegrationsansatzes. Krim. Journal, 31 Jg. 1999, H2, Seite 82-106 | ||
1 Grenzbau - Hobbes und der Gegensatz von Modernität und Barbarei |
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Seit einigen Jahren wird vor allem bei Soziologen und
Historikern eine interessante Debatte zum grundsätzlichen Verhältnis
von Moderne und Barbarei geführt. Im Wesentlichen stehen sich zwei
Positionen gegenüber: Der einen zufolge ist die Barbarei die der
Moderne innewohnende Kehrseite. Beide Aspekte sind insofern untrennbar
verbunden. Als bekannteste Vertreter gelten Adorno und Baumann. Dieser
Perspektive gegenüber steht die Vorstellung des sich ausschließenden
Gegensatzes von Moderne und Barbarei. Das Projekt der Moderne bestehe
darin, die Barbarei immer weiter zurückzudrängen. Den „Geburtsschein“
dieses Selbstbildes der Moderne sieht Reemtsma angesichts der Kriege des
17. Jahrhunderts in der Angst, in der Angst vor der allgegenwärtigen
Gewalt (Reemtsma 1996, S. 34). Um der Gewalt und der Angst vor dieser
Herr zu werden, wird die „Tätigkeit des Ordnens“ zum
wesentlichen Merkmal der Moderne (vgl. Baumann: 1996a, S. 13ff; Baumann
1996, S. 37ff).
Die Zielsetzung bei Hobbes ist eindeutig: Es geht um die Überwindung des gefährlichen chaotischen Naturzustandes durch ein Ordnung schaffendes Herrschaftssystem. Es geht dabei um die Ordnung als solche: Jede Despotie ist besser als das Chaos. Daraus resultiert ein Abweichungsmodell, das in wesentlichen Aspekten bis heute tradiert wird. Im Zentrum steht die hygienische Vorstellung, das Abweichende von der Ordnung trennen zu können, um so die Ordnung reinzuhalten und zu festigen. (vgl. Bergmann 1997, S. 270ff). Ordnung ist das Kennzeichen der Gesellschaft. Vorgänge innerhalb dieser Ordnung sind nachvollziehbar und vorhersehbar, sie sind kontrolliert. Abweichung ist so Kennzeichen des angsteinflößenden Unkontrollierten. Bezogen auf unser Thema der Jugendgewalt verweist Abweichung eindeutig auf den noch nicht kontrollierten Naturzustand. Letztlich kann sich aber eine Gesellschaft ihrer Ordnung nie ganz sicher sein. Die Angst vor dem Hervortreten des nie völlig überwundenden und in diesem Sinne lauernden Naturzustand, vor dem Chaos bleibt bestehen. Abweichendes Verhalten ist somit nicht einfach nur ein anderes Verhalten, sondern ein für die Ordnung gefährliches Verhalten, das diese grundsätzlich in Frage stellt. Gewalttätiges Verhalten ist nicht einfach nur ein illegitimes Verhalten, sondern der deutlichste Hinweis auf die Präsenz des Naturzustandes. So geht es im Umgang mit Gewalttätern immer auch um die Verteidigung der Zivilisation vor der Barbarei. Abweichendes Verhalten konfrontiert die Ordnung mit dem Unkontrollierten, es bricht von außen in die Ordnung ein. Ordnen heißt dann, sich gegen diesen Einbruch schützen, in Hobbes Terminologie, eine Grenze zwischen der Gesellschaft und dem Naturzustand bauen. Diese Grenzziehung hat dabei drei wesentliche Richtungen:
Aktuellere Modelle der Ausgrenzung der Barbarei konzentrieren sich so
vor allem auf die Beschaffenheit der Persönlichkeitsstruktur. Hier
entscheidet sich, ob die Ordnung stabil ist oder nicht. Um zu verstehen,
welche Ansprüche dabei an die Persönlichkeit gestellt werden,
muß noch einmal kurz auf das Grundverständnis der Moderne eingegangen
werden.
So kommt es zu der Gegensatzanordnung des einfachen, naturnahen und des
schweren, aber zivilisierten Weges. Ein starker Charakter kann die gestellte
Aufgabe meistern, ein schwacher wird zumindest seine Schwierigkeiten haben.
Daraus wird das typische Bild der abweichenden Persönlichkeit abgeleitet:
Sie hat den Schritt in die Zivilisation zumindest teilweise nicht nachvollzogen.
Aufgrund fehlender Reife, schlechter Erbanlagen, mangelnder Intelligenz
oder auch ungünstiger sozialer Umgebung ist sie nicht in Lage, sich
in die Sphäre der Zivilisation zu begeben und ist somit gezwungen,
auf die natürlichen Wurzeln zurückzugreifen. Aus der Perspektive
der in die Ordnung Integrierten ist sie demnach als der defizitäre
Andere angesehen und wird als naturnah, affektnah, kurzfristig planend,
körperorientiert, rücksichtslos usw. charakterisiert. |
[2] „Erst das Vorhaben, einen ‘kulturellen Sieg’ über Verrücktheit, Kriminalität, Minderwertigkeit und Roheit zu erringen und Insassen zu assimilieren, um sie nach diesem Transformationsprozeß der Gesellschaft zurückzugeben, teilt Menschen in zwei exklusive Gattungen.“ (Cremer Schäfer S. 94) |
In den wesentlichen Aspekten steht auch Hirschi in der Tradition der Klassiker. So findet sich auch bei ihm die deutliche Grenze zwischen Ordnung und Naturzustand. Zu Hobbes gibt es allerdings auch einen wichtigen Unterschied. Hobbes zweites Gegensatzpaar Souverän ? Untertan kommt bei Hirschi nicht vor, Begriffe wie Macht und Herrschaft haben bei ihm keine Bedeutung. Zur Klärung der allgemeingültigen gesellschaftlichen Ordnung greift er nicht auf Hobbes, sondern auf Benthams Sanktionsmodell zurück. Die freie Kosten- Nutzenabwägung des Individuums wird dabei zu einem aufeinander aufbauenden Sanktionsmodell in Beziehung gesetzt. Der Mensch kommt demzufolge als a-soziales Wesen zur Welt, das sich in seinem Verhalten nur von den Kategorien Lust und Leid lenken läßt. Erst durch die Konfrontation mit Sanktionen bekommt die Kategorie Devianz einen Sinn. Dies widerspricht übrigens der Hirschi oft unterstellten Ansicht, er ginge von einem kriminellen Wesen des Menschen aus. Sanktionen haben dabei eine zweifache Bedeutung: Einerseits markieren sie anhand des sanktionierten Verhaltens die Grenze zwischen Konformität und Devianz, andererseits geben sie dem rational abwägenden Individuum wichtige Argumente, sich für konformes Verhalten zu entscheiden.[3] Wie Bentham unterscheidet Hirschi dabei physikalische (natürliche), religiöse, moralische und politische Sanktionen (Gottfredson 1990, S. 5ff) und entsprechendes deviantes Verhalten: „Recklessness“, „Sin“, „Deviation“ und „Crime“. Devianz leitet sich folglich aus der Nichtbeachtung der entsprechenden Sanktionen ab. Wichtig ist dabei, daß die Sanktionen nicht willkürlich gesetzt werden, sondern sich voneinander ableiten und sich letztlich aus der Ebene der „natürlichen Sanktionen“ herausbilden. Auf den verschiedenen Ebenen werden so nur die von der Natur vorgegebenen Sanktionen durch die gesellschaftliche Ordnung reproduziert. So schreibt er exemplarisch: „Promiscuous sexual activity apparently produces great pleasure, but it also increases the risk of disease, unintended pregnancy, and death“ (Gottfredson 1990, S. 6) und folgert: „As a result, normative and legal systems evolve to draw attention to these consequences“ (Hirschi 1994, S. 5). | [3] „Damit eine Strafe ihre Wirkung habe, genügt es, daß sie ein Übel ist, welches den aus dem Verbrechen erwachsenen Vorteil überwiegt.“ C.Beccaria: Über Verbrechen und Strafe (1766), Frankfurt/M, 1966, S.108 zitiert nach Robert S.258 |
Damit ist es nicht mehr möglich, eine Perspektive zu entwickeln, die die Ordnung in Form der Sanktionen hinterfragt. Gleichzeitig verliert sich so die Möglichkeit, sich der Ordnung territorial zu entziehen, sie wird zu einer universellen Ordnung (vgl. Gottfredson 1990, S. 169ff). Ohne es immer wieder zu betonen, geht Hirschi konsequenterweise von einem Konsensmodell dieser Ordnung aus. Dies führt zu einer Problemverlagerung: es geht nicht mehr um Personen, die sich einer willkürlichen Ordnung nicht unterordnen wollen, sondern um (Persönlichkeits-) Defizite, die dazu führen, daß sie sich die selbstverständliche Ordnung nicht zu eigen machen. Die Grenzsicherung zwischen Naturzustand und Ordnung wird zu einer Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung, was schließlich auf die zentrale Bedeutung der Sozialisation hinweist.
Schon 1969 (Delinquencies and Causes) hatte Hirschi diese Thematik in seinem
bekannten Bindungsansatz aufgegriffen. Die Fragestellung lautete damals:
Wie schafft es der Mensch, den Naturzustand bei Geburt zu überwinden
und Teil der gesellschaftlichen Ordnung zu werden? Im Mittelpunkt steht
dabei die soziale Vermittlung der bestehenden Normen. Das Individuum trifft
demzufolge bei den Freunden, der Schule, aber v.a. bei den Eltern auf Vermittler
der geltenden Normen. In dem Maße, wie es sich diesen Personen und
Institutionen verbunden fühlt, wird es bereit sein, die Normen anzunehmen
(attachment). Hinzu kommen noch die Elemente Commitment, Involvement und
Belief (vgl. z.B. Haage 1995, S. 27f). Durch die sozialen Bindungen kann
letztlich die angestrebte Konformität und somit die Stabilität
der Gesellschaft erreicht werden. Oder negativ ausgedrückt, jemand
ist deviant, „weil seine Bindungen an die herkömmliche Ordnung
in irgendeiner Weise gestört sind.“ (Amelang 1986, S. 190) Seit
1990 steht Hirschi in Verbindung mit Gottfredson vor allem für den
Selbstkontrollansatz. Auch wenn das Hauptwerk zu diesem Ansatz „A
general Theory of Crime“ heißt, so geht der Aussagewert doch
weit über die Kriminalität hinaus. Genauer gesagt formuliert er
zusammen mit Gottfredson eine Theorie der Abweichung bzw. Konformität.
Die Aussagen zur Kriminalität stehen dabei beispielhaft im Zentrum
der Betrachtung. Hirschi interessiert dabei weniger das Spezifische der
Kriminalität (die rechtliche Sanktionierung), als vielmehr eine allgemeine
Phänomenologie der Abweichung. Dies wird in dem weiteren Band der Autoren
„The Generality of Deviance“ noch eindeutiger.
Niedrige Selbstkontrolle wird dabei nicht erlernt, sondern ist von Geburt
gegeben. Vielmehr kommt bei diesen Menschen das Nichterlernen der hohen
Selbstkontrolle, das Nichtnachvollziehen des Zivilisationsprozesses zum
Tragen (vgl. Gottfredson 1990, S. 94ff). Konnte die hohe Selbstkontrolle
in der Kindheit nicht entwickelt werden, bestehe kaum noch eine Chance,
dies nachzuholen. Der „latente Charakterzug“ wird von Hirschi
als sehr stabil angesehen. „These composite measures of crime are
highly stable over time“ (Gottfredson 1990, S. 253; Hirschi 1994,
S. 2). Kriminalitätsbekämpfung heißt also, in der frühen
Sozialisation der Person eine hohe Selbstkontrolle anzutrainieren. Hat dies
nicht funktioniert, ist es kaum noch möglich, dies in späteren
Jahren nachzuholen.
Ein einfaches Modell muß nicht falsch sein, aber es stellt sich die
Frage: Bildet es die Realität treffend ab, welchen normativen Gehalt
vermittelt es und ist es wünschenswert, daß es zur Anwendung
kommt? Leider gibt Hirschi wenig Aufschluß über die empirische
Herleitung der genannten zentralen Begriffe. Meist muß sich der Leser
mit zirkulären Verweisen begnügen, die in etwa wie folgt aussehen:
„Because, classical or control theories infer that offenders are not
restrained by social motives, it is common to think of them as emphasizing
an asocial human nature.“ (Gottfredson 1990, S. 86) Besonders deutlich
wird dieser Umstand bei dem zentralen Begriff der Selbstkontrolle. Menschen
mit niedriger, bzw. hoher Selbstkontrolle werden zwar bestimmte Eigenschaften
zugeschrieben, aber nirgends gibt es eine explizite Definition (vgl. Lamnek
1994, S. 165). Da es sich hier um eine Weiterentwicklung der eigenen Theorie
handelt, kann Hirschi hier noch nicht einmal auf die Klassiker verweisen
(Gottfredson 1990, S. 87).
Trotz dieser Mängel lassen sich seine Begriffe aufgrund einiger expliziter
und vieler impliziter Aussagen kurz diskutieren. In Hirschis Modell läßt
sich der Mensch ganz auf sein Eigeninteresse reduzieren. In diesem Sinn
sind alle gleich. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ist allerdings
die entwickelte Selbstkontrolle. Dieser Faktor wird zum wesentlichen Element,
den Naturzustand in uns selbst und somit jede Abweichung zu bekämpfen.
Dies kann durchaus als Weiterentwicklung des klassischen Modells angesehen
werden, „da somit die staatlich geleiteten ‘großen‘
Gefängnisse durch zahllose ‘kleine‘ selbstgeführte
Gefängnisse ergänzt wurden.“ (Baumann 1996, S. 44) Anhand
des Merkmals Selbstkontrolle zieht er eine harte Grenze zwischen konformen
und devianten Personen, er konstruiert so „eine latente Dichotomie,
die als ‘Hedonismus‘ versus ‘asketische Ethik‘ [...]
zu bezeichnen wäre“ (Lamnek 1994, S. 163). Der selbstdiziplinierten
Persönlichkeit steht so die spontane, lustbetonte und in diesem Sinn
ungezähmte Persönlichkeit gegenüber. Ist es tatsächlich
wünschenswert, diese pauschal als unerwünscht zu brandmarken?
Da der Hedonismus letztlich an der Nichtbeachtung von Sanktionen festgemacht
wird, wird auch jegliches berechtigte Aufbegehren und jegliche Emanzipationsbewegung
dieser Seite zugeschlagen. |
[4] Unter anderem auf die Kontrolltheorien bezogen, schreibt Robert polemisch: „[...] daß sie einer Sozialtheorie aufruht, für die sich in den außerkriminologischen Zentren dieser Diskussion keine Gesprächspartner, geschweige denn Protagonisten oder Vertreter mehr auftun lassen. [...] [Sie] hält am Konsensusmodell der Gesellschaft fest, frönt Sozialisationsvorstellungen abgestandener Provenienz und läuft einem Konzept sozialer Kontrolle nach, für das sie sich allenfalls noch auf die Rhetorik des Strafrechts und des ‘gesunden Menschenverstandes’ berufen kann.“ Robert S.29/30; Reemtsma führt diese „Fetischisierung des Konsens“ (S.32) auf ein starkes Sicherheitsbedürfnis und somit wieder auf die Angst zurück. |
Der Integration in diese Ordnung, also der Sozialisation,
kommt bei Hirschi eine zentrale und mehrfache Bedeutung zu. Sie ist v. a.
der Prozeß, in dem aus dem asozialen Menschen ein gesellschaftsfähiges
Wesen gemacht wird, ein im kleinen nachvollzogener Zivilisationsprozeß
und im Sinne der Prävention die eigentliche Kriminalitätsbekämpfung.
Zum Abschluß soll noch Heitmeyer, als Kritiker des von Hirschi vertretenen Maßstabes, zu Wort kommen: „Diese Debatte um Bindungsverluste übersieht, daß Bindungen ein Integrationsmodus von traditionalen Gesellschaften darstellt, der weitgehend auf Sicherung von Abhängigkeiten basiert. [...] Die Wiederherstellung unbefragter Loyalitäten durch Bindungen kann in modernen Gesellschaften nur durch Zwang und Gewalt erreicht werden. Insofern soll Gewalt mit Zwang bekämpft werden. Der Kreislauf von Gewalterfahrungen und Gewalttätigkeit würde damit auf Touren gebracht“ (Heitmeyer 1995, S. 421f). |
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Geht es um Jugendgewalt, ist Heitmeyer und sein Erklärungsansatz
nicht mehr wegzudenken. Seit dem Erscheinen seiner Rechtsextremismusstudie
gibt es niemanden, der auf diesem Gebiet so wirkungsvoll seine Thesen
vertritt, wie eben Heitmeyer mit dem Desintegrationsansatz. Schon beim
ersten Blick in seine Bücher fällt dabei wohltuend ein großer
Unterschied zu Hirschi ins Auge: Heitmeyer geht nicht stillschweigend
von einem bestimmten Gesellschaftsbild aus, sondern setzt sich dezidiert
mit der aktuellen Situation, vor allem in Deutschland, auseinander.
Für diese neue, hochmodernisierte Gesellschaft will Heitmeyer eine
Erklärung für das alte Thema der Jugendgewalt liefern. Wie Heitmeyer
entsprechend dem obigen Zitat richtig erkennt, wäre es falsch, in
einer so veränderten Gesellschaft vom gleichen Integrationsmodus
auszugehen wie in einer traditionalen Gesellschaft. Was aber heißt
Integration in eine individualisierte Gesellschaft, was heißt soziale
Kontrolle und vor allem, was heißt Abweichung, wenn der Maßstab,
von dem Hirschi noch ausgeht, in Auflösung begriffen ist? Dieser
Fragestellung gehen verschiedene Autoren und Autorinnen nach und zeigen
auf, daß es ein sehr komplexes und auch oft widersprüchliches
Thema ist. So diskutiert Hahn kriminelle Abweichung auch als eine Form
von Anpassung (Hahn 1995, S. 30ff) und schreibt mit Bezug auf eine Studie
von Hermann/ Kerner, daß das kriminelle Verhalten „subjektiv
als Anpassung an die sozialstrukturellen Handlungsbedingungen gesehen
werden kann.“ (Hahn 1995, S. 33). Auch Blinkert schreibt: „Danach
kann also abweichendes Handeln als eine ‘rationale Form der Konfliktlösung‘
[...] in modernen, ‘individualisierten‘ Gesellschaften, insofern
als Anpassung, gewertet werden."(Blinkert 1988, S. 398)
Da er die Perspektive des Ideals der Sonnenseite auch bei der Betrachtung
der Schattenseite beibehält, ergibt sich so schon die wesentliche
Aussage über die Menschen jenseits der Grenze: sie sind gegenüber
diesem scheinbar allgemeingültigen Maßstab defizitär,
sie können ihm, aus welchen Gründen auch immer, nicht genügen.
Was fehlt, ist eine genauere Beschreibung der Defizite und eine Begründung,
wie es zu ihnen gekommen ist. Die Desintegrationsthese wird von Heitmeyer zum ersten Mal schon 1985 öffentlich vertreten. Damals wies er auf die Gefahren der „Selbstwidersprüchlichkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses“ (Heitmeyer 1985, S. 195) hin. Rechtsextreme Gewalt interpretierte er damals als „verzweifelte Antwort auf die skizzierte Selbstwidersprüchlichkeit“, als „Versuch des Aufbaus einer eigenständigen Identität“. Dabei kam er zu der aus heutiger Sicht interessanten Bewertung: „Insoweit ist die Ansprechbarkeit für Gewalt alles andere als irrational, sondern höchst rational, weil sonst kaum Möglichkeiten des Wehrens und des Erkämpfens einer eigenständigen Identität gegeben erscheinen.“ (Heitmeyer 1985, S. 193/194) Nach dem Erscheinen der „Risikogesellschaft“ von Beck (1986) verändert sich Heitmeyers Vokabular und die Perspektive. Kern ist nun die Individualisierung als aktuell wesentliche Form der Differenzierung der modernen Gesellschaft. Sie überlagert die alten Ungleichheiten (vgl. Heitmeyer 1995, S. 35ff) und ist Grundlage der gesellschaftlichen Widersprüche, die jetzt Ambivalenzen genannt werden. Noch Anfang 1993 definiert Heitmeyer in diesem Zusammenhang „Desintegrationsprozesse“ als:
Wohlgemerkt, Heitmeyer bezieht diese Aussagen auf die Gesellschaft. Desintegration
benennt einen gesellschaftlichen Prozeß der Auflösung alter
Strukturen. Dieser Prozeß betrifft die ganze Gesellschaft und nicht
nur einzelne Gruppen. Desintegrationsprozesse „lassen sich nicht
mehr als Ausgrenzung von Randgruppen begreifen oder als eine Aufspaltung
in eine Zweidrittel - Eindrittel - Gesellschaft.“ (Heitmeyer 1993,
S. 4) Entsprechend diesem strukturanalytischen Begriff betrachtet er die
„gesellschaftlichen Strukturen als Ursache der Zunahme des Rechtsextremismus
in der Bundesrepublik.“ Desintegration als wesentliches strukturanalytisches
Kennzeichen einer hochmodernisierten Gesellschaft wird als Ursache der
rechten Gewalt angesehen. In den Auflösungserscheinungen der Gesellschaft
liegt das Problem, welches sich bei einzelnen defizitären Jugendlichen
in Form der Gewalt ausdrückt. Sie sind die Schwachstelle und nicht
die Ursache. Demzufolge müßte im Zentrum einer Ursachenanalyse,
die Heitmeyer anstrebt, die allgemeine Struktur der Gesellschaft stehen.
Statt dessen interessiert er sich in seinen empirischen Erhebungen ausschließlich
für die Beschaffenheit der Schwachstelle. Die einzelnen Jugendlichen
als defizitäre Persönlichkeiten stehen im Zentrum. Dieser Perspektive
entsprechend tritt ein anderer Desintegrationsbegriff in den Vordergrund,
der vor allem in der Studie über „Gewalt“ und über
„Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen“ deutlich wird.
Auf der Mikroebene geht es um den Nachweis einer Korrelation zwischen
Desintegrationserfahrungen, deren defizitärer Verarbeitung und gewalttätigem
Verhalten. Dabei wird auf dieser Ebene zwischen „struktureller“
und „subjektiv emotionaler Desintegration“ (Heitmeyer 1995,
S. 142) unterschieden. Konkret sieht das so aus: Die Sozialisation des
„Mitläufers“ Ewald ist durch „gravierende emotionale
Desintegrationserfahrungen geprägt“. Der Stiefvater hat ihm
über Jahre vermittelt, unerwünscht zu sein und seine Mutter
konnte das nicht verhindern. Die Folge, Ewald holt sich das „Gefühl
der Akzeptanz und des Dazugehörens“ bei den Skins (Heitmeyer/Müller
1995, S.84/85). Oder der „Aggressive“ Tobias: er kommt zwar
nicht aus einer strukturell desintegrierten Familie, aber auch bei ihm
taten sich „schon früh emotionale Desintegrationsprozesse auf
in Gestalt mangelnder Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung [...].
Die Hinwendung zu jugenddominierten Subkulturen [...] entsprang daher
zuallererst dem Bedürfnis, sich auf anderen Feldern Geltung zu verschaffen,
die ihm zuhause subjektiv versagt blieb.“ (Heitmeyer/Müller
1995, S. 107) Der inhaltliche Zusammenhang soll hier nicht weiter hinterfragt
werden, aber was hat das mit dem o. g. Desintegrationsbegriff zu tun?
Zurück zum Ausgangspunkt. Heitmeyer sieht sich mit einer hoch differenzierten und in sich widersprüchlichen Gesellschaft konfrontiert. Schon im Aufsatz über die „Neuen Widersprüche“ macht sich dieser für ihn bedrückende Eindruck breit. Nicht nur Jugendliche, auch Erwachsene sind in den sich potenzierenden Widersprüchen verwickelt und stecken in einem Orientierungsdilemma (Baacke 1985, S. 20/21). So wundert es nicht, daß er das sich Orientieren als wichtigstes Problem erlebt und hervorhebt. Er begeht aber den Fehler, dieses Problem zu verallgemeinern, ohne diese Verallgemeinerung zu begründen oder gar empirisch zu belegen. Gerade in einer hochdifferenzierten Gesellschaft ist es eher zweifelhaft, daß alle Personen das gleiche Problem haben. Rommelspacher thematisiert dieses „Vorurteil der Gleichheit“ als eine Form der Dominanz: „Es wird dabei stillschweigend davon ausgegangen, daß ‘dort‘ und ‘hier‘ dieselben Probleme anstehen und damit auch nach denselben Lösungen zu suchen sei.“ (Rommelspacher 1995, S. 17) Schulze schreibt über Menschen unter „harten materiellen Bedingungen“: „Ihr Handeln wird durch Probleme motiviert, ihre Gedanken haben ein Thema, ihr Dasein hat eine Richtung: nach oben. Menschen, die nach oben wollen, haben Mittelkrisen, Menschen, die oben sind, haben Sinnkrisen“ (Schulze 1995, S. 60/61) „Orientierungslosigkeit ist demnach ein Problem der Mächtigen, der Privilegierten und Gesättigten, weil für sie das soziale und materielle Umfeld das Gewicht der Notwendigkeit weitgehend verloren hat.“ (Rommmelspacher 1995, S. 13) Für Heitmeyer scheint diese, aus der bestehenden Ungleichheit abzuleitende Sichtweise, keine Bedeutung zu haben. Für ihn gibt es nicht nur ein allgemeingültiges Problem, das „Orientierungsdilemma“, sondern auch einen allgemeingültigen Lösungsweg, die Herausbildung der „eigenständigen Identität“. Personen, die offensichtlich nicht in aufgelösten sozialen Welten leben, werden nicht als Gegenbeleg zu seiner These der Allgemeingültigkeit herangezogen. Vielmehr dienen sie als problematische abweichende Personen als Kronzeugen für seine These. Auf dieser Matrix kann sich jeder, der sich auf der Sonnenseite wähnt, als Vorreiter sehen und das Anderssein kann eindeutig auf Defizite zurückgeführt werden. Wie bei allen Ausgrenzungsmodellen dient auch bei Heitmeyer die Beschreibung der abweichenden Persönlichkeiten letztlich der Unterscheidung zu uns, den Integrierten. Das Spezifische wird herausgearbeitet, Defizite als solche gekennzeichnet und Wege der Überwindung (Grenzübergänge) werden erarbeitet. So gliedert sich auch seine Beschreibung der Personen jenseits der Grenze fast nahtlos in die Tradition der Definition des Barbarischen ein: Der sekundäre Modernisierungsschub der Gesellschaft kann auf der individuellen Ebene nicht angemessen nachvollzogen werden. Ihre Persönlichkeitsstruktur ist defizitär, sie haben keine eigenständige Identität und somit auch keine autonome Handlungsfähigkeit entwickeln können. (vgl. Heitmeyer 1992, S. 80ff; Baacke 1985, S. 190ff) Um trotzdem zu einer Identität zu kommen und sich eine „surrogathafte Handlungssicherheit“ aufzubauen, müssen sie auf einfache Orientierungsmuster zurückgreifen (vgl. Heitmeyer 1992, S. 92ff). Ihre Ohnmachtserfahrungen wandeln sie in Gewalt um und begründen diese dann mit „naturnahen“ Kategorien. Wie bei Hobbes und Hirschi erscheinen diese Jugendlichen wie Fossilien vergangener Zeiten, wie Fremdkörper in einer kultivierten Welt. Eigentlich überrascht es, daß der populärste 'linke‘ Ansatz nicht die Tradition der Definitionstheoretiker fortsetzt. Peters erklärt dies mit der Angst vieler definitionstheoretischer Soziologen, eine entsprechende Analyse „brächte rechte Gewalttäter am Ende in eine Opferposition.“ (Peters 1995, S. 35) Bei den (rechtsextremen) Gewalttätern überlagern sich demzufolge verschiedene Grenzziehungen, die von unterschiedlichen Gruppen und Institutionen vorgenommen werden. Die Grenze wird vom Recht getragen, breite konservative Gruppen, die in diesen Personen v.a. die Unruhestifter sehen, unterstützen sie, aber auch Personen, die schon immer starke Vorbehalte gegenüber Gewalt und rechten Ideologien hatten, fordern diese Grenze. Die gemeinsame Grenzziehung schafft in einer desorientierten Gesellschaft einen Rahmen, der anhand einfacher Kategorien eine Orientierung erlaubt, die Verunsicherung überwinden hilft und eine entsprechende Handlungsfähigkeit ermöglicht. So scheint es Heitmeyer nicht primär darum zu gehen, ein neues, differenziertes Abweichungsmodell zu entwickeln, sondern darum, in einer desorientierten Gesellschaft Orientierung zu geben. Und ein einfaches Abweichungsmodell wie das beschriebene, das eindeutig vorgibt, was von was zu trennen ist, ist dazu besser geeignet, als sich auf die Paradoxien von Individualisierung und Integration einzulassen. Gerade dies und nicht seine kritischen Äußerungen oder sein ausführliches empirisches Material machen Heitmeyers Ansatz so populär. Eine Ausnahme bildet da seine neuere Untersuchung zum „Verlockenden Fundamentalismus“. Wie Heitmeyer richtig analysiert, ist die Reaktion auf diese Studie deshalb so vehement, „weil sie stört“ (Heitmeyer 1997, S. 10). Seine Argumentation in dieser Studie ist, mit ihren Stärken, aber auch mit ihren Schwächen, im wesentlichen gleich geblieben. Im Unterschied zu den anderen Untersuchungen gibt es aber jetzt Personen, die die von ihm vollzogene Grenzziehung nicht mittragen wollen (vgl. Bukow 1997, S. 14/15). Die Stigmatisierung der (rechtsextremen) Gewalttäter hat dagegen außer dem rechten Rand niemanden gestört. |
[5] "Bezeichnenderweise wählt Heitmeyer in seinen Ausführungen Formulierungen, die nicht auf die Veränderung der Wirklichkeit abzielen, sondern auf das Aushalten eines Lebens unter fremdgesetzten Bedingungen, womöglich im Gefühl der eigenen Autonomie und Unabhängigkeit." Leiprecht S.199 |