Aus-einander-setzung mit Gewalt:

Der Kampf um den Limes der Gesellschaft

Dieser Text wurde in ähnlicher Form zuerst im Kriminologischen Journal veröffentlicht. [1]

Jugendgewalt ist ein periodisch wiederkehrendes Thema in der Öffentlichkeit. Umfassende Erklärungsansätze spielen dabei eine wesentliche Rolle. An den populären Ansätzen von Heitmeyer und von Hirschi / Gottfredson wird gezeigt, daß diese im Wesentlichen, ganz in der Tradition von Hobbes, die Ausgrenzung der Barbaren vorantreiben.
Nicht in Erkenntnissen über Gewalttäter liegt ihr Nutzen, sondern in der Bestimmung des Limes zwischen Barbarei und Gesellschaft. Anhand dieser Grenze wird um den als allgemeingültig erklärten Maßstab der Gesellschaft gestritten.
Die "Hallesche Biographiestudie zur Jugendgewalt" untersucht die Personen im Gegensatz zu den genannten Autoren nicht als defizitäre Andere, sondern versucht den gesamten Biographien gerecht zu werden.
Gerade so zeigt sich, daß die Verarbeitung der erwähnten Ausgrenzungsprozesse einen wichtigen Stellenwert in den Biographien einnimmt.

 

[1] Diedrich, I./ Meyer, A./ Rössner, D.: Der Kampf um den Limes der Gesellschaft - eine Kritik der Kontrolltheorie und des Desintegrationsansatzes. Krim. Journal, 31 Jg. 1999, H2, Seite 82-106

   
Einleitung  

Das Thema Jugend und Gewalt ist wirklich nicht neu, gerade in unserem Jahrhundert gab es eine „zyklische Wiederkehr“ der Gewaltdebatten in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft (vgl. Hafeneger 1994, S. 7ff ). Wahrscheinlich hat es aber noch nie so viele Diskussionsforen, so viele Aufsätze, Bücher und Studien zu dieser Thematik gegeben wie in der aktuellen Phase. Gerade in der Nachwendezeit wird dieses Thema verstärkt genutzt, sich in der Gesellschaft zu orientieren, die Ordnung zu stabilisieren und um die Durchsetzung bestimmter Maßstäbe zu ringen. Der Wissenschaft kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Sie liefert das Wissen und die Argumente zur Formulierung des anzustrebenden Maßstabes und zur Ausgrenzung der davon abweichenden Personen. Schon vor Jahren sagte Schur treffend: „Ihre Hauptfunktion besteht nicht darin, Abweichende zu ändern oder potentielle Abweichende abzuschrecken, sondern darin, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und zu verstärken.“ (Schur 1974, S. 132) Anhand zweier aktuell sehr populärer Erklärungsansätze wird gezeigt, dass trotz Täterorientierung und immenser Datenfülle das Wissen um diese Personen alten Klischees verhaftet bleibt, dafür aber ausführlich für einen gültigen Maßstab der gesellschaftlichen Ordnung argumentiert wird.

  1. Der Kontrolltheoretische Ansatz von Hirschi, der laut einer Untersuchung von Niggli (Niggli 1992) bei Personen, die im kriminologischen Bereich in Forschung und Lehre tätig sind, als wichtigster Ansatz angesehen wird.
  2. Der Desintegrationsansatz von Heitmeyer, der, aus der Jugendforschung stammend, der Diskussion große Impulse gegeben hat und als der momentan meistdiskutierte Ansatz angesehen werden kann.
    Folglich wird zurecht bemängelt, dass bis heute eine differenzierte Darstellung der einzelnen Persönlichkeiten fehlt. Diese Lücke will die „Halleschen Biographiestudie zur Jugendgewalt“* schließen, die im Kontrast zu den analysierten Ansätzen skizziert wird.
 
   

 

1 Grenzbau
- Hobbes und der Gegensatz von Modernität und Barbarei
 

Seit einigen Jahren wird vor allem bei Soziologen und Historikern eine interessante Debatte zum grundsätzlichen Verhältnis von Moderne und Barbarei geführt. Im Wesentlichen stehen sich zwei Positionen gegenüber: Der einen zufolge ist die Barbarei die der Moderne innewohnende Kehrseite. Beide Aspekte sind insofern untrennbar verbunden. Als bekannteste Vertreter gelten Adorno und Baumann. Dieser Perspektive gegenüber steht die Vorstellung des sich ausschließenden Gegensatzes von Moderne und Barbarei. Das Projekt der Moderne bestehe darin, die Barbarei immer weiter zurückzudrängen. Den „Geburtsschein“ dieses Selbstbildes der Moderne sieht Reemtsma angesichts der Kriege des 17. Jahrhunderts in der Angst, in der Angst vor der allgegenwärtigen Gewalt (Reemtsma 1996, S. 34). Um der Gewalt und der Angst vor dieser Herr zu werden, wird die „Tätigkeit des Ordnens“ zum wesentlichen Merkmal der Moderne (vgl. Baumann: 1996a, S. 13ff; Baumann 1996, S. 37ff).
Hobbes gilt als erster politischer Denker, der diese Ordnung in einem Modell klar formuliert hat. Dieses Modell ist bis heute gerade in der Kriminologie für viele Ansätze wegweisend. Es ist im Kern von zwei Gegensatzanordnungen geprägt.

  1. Naturzustand <-> Gesellschaftszustand: Als Naturzustand wird die Barbarei angesehen, die durch den gewalttätigen Kampf jeder gegen jeden bestimmt ist. Getragen wird dieser Kampf von der ungezügelten Bedürfnisbefriedigung der Menschen. Es herrscht Anarchie und Chaos. Die Kosten dieses konstanten Zustandes sind sehr hoch: u.a. ständige begründete Angst um die eigene Gesundheit. Durch den willkürlichen Akt des Gesellschaftsvertrages lösten sich die Menschen aus diesem Zustand. Gesellschaft wurde als Überwindung des Naturzustandes gedacht: der Allgegenwart des chaotischen Naturzustandes wurde die Allgemeingültigkeit der gesellschaftlichen Ordnung gegenübergestellt. In dieser sich ausschließenden Gegensatzanordnung kann da, wo Naturzustand ist, nicht Gesellschaft sein und da, wo Gesellschaft ist, nicht Naturzustand. Die gesellschaftliche Ordnung soll den Menschen die Sicherheit geben, innerhalb ihres Rahmens ohne Gefahr den Bedürfnissen nachgehen zu können.
  2. Souverän <-> Untertanen: Grundlegendes Strukturelement der Gesellschaft ist die Einführung der absoluten Macht auf der Seite des Souveräns und entsprechendem Autonomieverzicht auf der Seite der Untertanen. Alle Untertanen verpflichten sich zum Gewaltverzicht und konstituieren so das Gewaltmonopol des absoluten Souveräns und der entsprechenden Ordnung.

Die Zielsetzung bei Hobbes ist eindeutig: Es geht um die Überwindung des gefährlichen chaotischen Naturzustandes durch ein Ordnung schaffendes Herrschaftssystem. Es geht dabei um die Ordnung als solche: Jede Despotie ist besser als das Chaos. Daraus resultiert ein Abweichungsmodell, das in wesentlichen Aspekten bis heute tradiert wird. Im Zentrum steht die hygienische Vorstellung, das Abweichende von der Ordnung trennen zu können, um so die Ordnung reinzuhalten und zu festigen. (vgl. Bergmann 1997, S. 270ff). Ordnung ist das Kennzeichen der Gesellschaft. Vorgänge innerhalb dieser Ordnung sind nachvollziehbar und vorhersehbar, sie sind kontrolliert. Abweichung ist so Kennzeichen des angsteinflößenden Unkontrollierten. Bezogen auf unser Thema der Jugendgewalt verweist Abweichung eindeutig auf den noch nicht kontrollierten Naturzustand.

Letztlich kann sich aber eine Gesellschaft ihrer Ordnung nie ganz sicher sein. Die Angst vor dem Hervortreten des nie völlig überwundenden und in diesem Sinne lauernden Naturzustand, vor dem Chaos bleibt bestehen. Abweichendes Verhalten ist somit nicht einfach nur ein anderes Verhalten, sondern ein für die Ordnung gefährliches Verhalten, das diese grundsätzlich in Frage stellt. Gewalttätiges Verhalten ist nicht einfach nur ein illegitimes Verhalten, sondern der deutlichste Hinweis auf die Präsenz des Naturzustandes. So geht es im Umgang mit Gewalttätern immer auch um die Verteidigung der Zivilisation vor der Barbarei. Abweichendes Verhalten konfrontiert die Ordnung mit dem Unkontrollierten, es bricht von außen in die Ordnung ein. Ordnen heißt dann, sich gegen diesen Einbruch schützen, in Hobbes Terminologie, eine Grenze zwischen der Gesellschaft und dem Naturzustand bauen. Diese Grenzziehung hat dabei drei wesentliche Richtungen:

  1. Sie grenzt Territorien der Barbarei ab. Schon in der Antike schützte sich das zivilisierte römische Reich durch einen Limes vor den Barbaren des Nordens.
  2. Sie grenzt den Naturzustand zeitlich von der jeweils aktuellen Moderne ab. Barbarei gilt somit als eine überwundene Epoche, als eine Zeit, aus der sich die Zivilisation heraus entwickelt hat.
  3. Vor allem seit Freud und Elias tritt die Vorstellung in den Vordergrund, die Barbarei stecke letztlich in jeder Person, sie sei nur durch eine dünne Decke der Zivilisation zugedeckt. Die Trennlinie durchzieht so jeden Menschen. Folglich lauert die Gefahr nicht nur außerhalb der Gesellschaft, sondern kann jederzeit innerhalb der Grenzen ausbrechen.

Aktuellere Modelle der Ausgrenzung der Barbarei konzentrieren sich so vor allem auf die Beschaffenheit der Persönlichkeitsstruktur. Hier entscheidet sich, ob die Ordnung stabil ist oder nicht. Um zu verstehen, welche Ansprüche dabei an die Persönlichkeit gestellt werden, muß noch einmal kurz auf das Grundverständnis der Moderne eingegangen werden.
Der Beginn der Moderne gleicht nach Hobbes einem Sprung vom naturnahen Barbarischen hin zum Zivilisierten. Seitdem befinden wir uns in einem Prozeß der Zivilisation, „in deren Verlauf das Grobe sanft, das Grausame gütig, das Ungehobelte gesittet wird“ (Baumann 1996, S. 38). Das Barbarische wird immer weiter zugunsten des Kultivierten zurückgedrängt. Die zivilisierte Gesellschaft ist von Anfang an als ein Schritt des Menschen über sich hinaus gedacht. Indem er seine Souveränität aufgibt, überwindet er sich ein Stück selbst und ermöglicht so die zivile Gesellschaft. Zivilisation bedeutet also eine Transzendierung der eigenen Natur. Baumann nennt es „die Welt dazu zu zwingen, anders zu sein, als sie ist“ (Baumann 1996, S. 36). Reich beschreibt es konkreter, als ständigen Versuch, sich konsequent von den eigenen biologischen Wurzeln zu distanzieren und „das Anders-als-das-Tier-Sein“ zu betonen (Reich 1986, S. 300). In unserem Zusammenhang sind vor allem zwei Aspekte dieses Gesellschaftsbildes von Bedeutung: 1. die Dichotomie zwischen dem zu überwindenden naturnahen und dem zivilisierten Verhalten 2. die hohen Anforderungen, die an eine zivilisierte Gesellschaft, aber auch im ontogenetischen Nachvollzug an die Individuen gestellt werden. Gesellschaftsfähig werden heißt vor allem, den eigenen Naturzustand zu überwinden und diesen durch das jeweils aktuelle Bild von Zivilisiertheit zu ersetzen.

So kommt es zu der Gegensatzanordnung des einfachen, naturnahen und des schweren, aber zivilisierten Weges. Ein starker Charakter kann die gestellte Aufgabe meistern, ein schwacher wird zumindest seine Schwierigkeiten haben. Daraus wird das typische Bild der abweichenden Persönlichkeit abgeleitet: Sie hat den Schritt in die Zivilisation zumindest teilweise nicht nachvollzogen. Aufgrund fehlender Reife, schlechter Erbanlagen, mangelnder Intelligenz oder auch ungünstiger sozialer Umgebung ist sie nicht in Lage, sich in die Sphäre der Zivilisation zu begeben und ist somit gezwungen, auf die natürlichen Wurzeln zurückzugreifen. Aus der Perspektive der in die Ordnung Integrierten ist sie demnach als der defizitäre Andere angesehen und wird als naturnah, affektnah, kurzfristig planend, körperorientiert, rücksichtslos usw. charakterisiert.
Der Gewalttäter stellt quasi den Gipfel dieses Typus dar. Er hat mit seinem Verhalten belegt, daß er noch der barbarischen Welt des Naturzustandes verhaftet ist. Konsequenterweise werden diese Personen durch die Inhaftierung, dem extremsten Ausdruck des Außerhalbstehens, von der Gesellschaft getrennt. Hier sollen sie durch verschiedene Maßnahmen die ungenügende Zivilisierung nachholen und so reintegriert (besser integriert) werden. Dementsprechend stellt Goffman „Totale Institutionen“ als Orte der Transformation von Menschen dar, eine Transformation, die die nicht Ausgegrenzten anscheinend schon vollzogen haben. [2]
Entsprechend dem konstanten Naturzustand müssen auch die Vorstellungen von den Persönlichkeiten der Gewalttäter nicht ständig aktualisiert werden. Das was sich ständig, u.a. durch das Ordnen selbst, ändert, ist die gesellschaftliche Ordnung. Diese Veränderung zwingt zur dauernden Modifikation des Maßstabes entsprechend der neuen Gegebenheiten. Wo kann der Bereich des Kontrollierten z.B. durch gesteigerte Affektkontrolle ausgeweitet werden und wo hat die neue Grenze Schwachstellen, an denen die Barbaren einfallen können? In dieser von der Wissenschaft zu klärenden Frage ist die Persönlichkeit des Abweichlers als solche sekundär. Sie ist ja weitgehend bekannt und ändert sich kaum. Interessant ist vielmehr die Beziehung dieser Persönlichkeit zum gültigen Maßstab der Ordnung. Auf welche Defizite im Bezug zum Maßstab kann das Anderssein zurückgeführt werden? Welche Maßgaben des Maßstabes sind sie nicht in der Lage zu erfüllen, so daß sie gezwungen sind, auf den Naturzustand zurückzugreifen? Wie kann auch diesen defizitären Personen geholfen werden, sich zu zivilisieren, um sich so dem jeweiligen Maßstab anzupassen? Letztlich wird in den unterschiedlichen Ansätzen um die unterschiedlichen Maßstäbe gerungen, von denen die immergleichen Barbaren abweichen.

[2] „Erst das Vorhaben, einen ‘kulturellen Sieg’ über Verrücktheit, Kriminalität, Minderwertigkeit und Roheit zu erringen und Insassen zu assimilieren, um sie nach diesem Transformationsprozeß der Gesellschaft zurückzugeben, teilt Menschen in zwei exklusive Gattungen.“ (Cremer Schäfer S. 94)
   

2 Grenzsicherung
- Hirschi

 
In den wesentlichen Aspekten steht auch Hirschi in der Tradition der Klassiker. So findet sich auch bei ihm die deutliche Grenze zwischen Ordnung und Naturzustand. Zu Hobbes gibt es allerdings auch einen wichtigen Unterschied. Hobbes zweites Gegensatzpaar Souverän ? Untertan kommt bei Hirschi nicht vor, Begriffe wie Macht und Herrschaft haben bei ihm keine Bedeutung. Zur Klärung der allgemeingültigen gesellschaftlichen Ordnung greift er nicht auf Hobbes, sondern auf Benthams Sanktionsmodell zurück. Die freie Kosten- Nutzenabwägung des Individuums wird dabei zu einem aufeinander aufbauenden Sanktionsmodell in Beziehung gesetzt. Der Mensch kommt demzufolge als a-soziales Wesen zur Welt, das sich in seinem Verhalten nur von den Kategorien Lust und Leid lenken läßt. Erst durch die Konfrontation mit Sanktionen bekommt die Kategorie Devianz einen Sinn. Dies widerspricht übrigens der Hirschi oft unterstellten Ansicht, er ginge von einem kriminellen Wesen des Menschen aus. Sanktionen haben dabei eine zweifache Bedeutung: Einerseits markieren sie anhand des sanktionierten Verhaltens die Grenze zwischen Konformität und Devianz, andererseits geben sie dem rational abwägenden Individuum wichtige Argumente, sich für konformes Verhalten zu entscheiden.[3] Wie Bentham unterscheidet Hirschi dabei physikalische (natürliche), religiöse, moralische und politische Sanktionen (Gottfredson 1990, S. 5ff) und entsprechendes deviantes Verhalten: „Recklessness“, „Sin“, „Deviation“ und „Crime“. Devianz leitet sich folglich aus der Nichtbeachtung der entsprechenden Sanktionen ab. Wichtig ist dabei, daß die Sanktionen nicht willkürlich gesetzt werden, sondern sich voneinander ableiten und sich letztlich aus der Ebene der „natürlichen Sanktionen“ herausbilden. Auf den verschiedenen Ebenen werden so nur die von der Natur vorgegebenen Sanktionen durch die gesellschaftliche Ordnung reproduziert. So schreibt er exemplarisch: „Promiscuous sexual activity apparently produces great pleasure, but it also increases the risk of disease, unintended pregnancy, and death“ (Gottfredson 1990, S. 6) und folgert: „As a result, normative and legal systems evolve to draw attention to these consequences“ (Hirschi 1994, S. 5). [3] „Damit eine Strafe ihre Wirkung habe, genügt es, daß sie ein Übel ist, welches den aus dem Verbrechen erwachsenen Vorteil überwiegt.“ C.Beccaria: Über Verbrechen und Strafe (1766), Frankfurt/M, 1966, S.108 zitiert nach Robert S.258

Damit ist es nicht mehr möglich, eine Perspektive zu entwickeln, die die Ordnung in Form der Sanktionen hinterfragt. Gleichzeitig verliert sich so die Möglichkeit, sich der Ordnung territorial zu entziehen, sie wird zu einer universellen Ordnung (vgl. Gottfredson 1990, S. 169ff). Ohne es immer wieder zu betonen, geht Hirschi konsequenterweise von einem Konsensmodell dieser Ordnung aus. Dies führt zu einer Problemverlagerung: es geht nicht mehr um Personen, die sich einer willkürlichen Ordnung nicht unterordnen wollen, sondern um (Persönlichkeits-) Defizite, die dazu führen, daß sie sich die selbstverständliche Ordnung nicht zu eigen machen. Die Grenzsicherung zwischen Naturzustand und Ordnung wird zu einer Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung, was schließlich auf die zentrale Bedeutung der Sozialisation hinweist.

Schon 1969 (Delinquencies and Causes) hatte Hirschi diese Thematik in seinem bekannten Bindungsansatz aufgegriffen. Die Fragestellung lautete damals: Wie schafft es der Mensch, den Naturzustand bei Geburt zu überwinden und Teil der gesellschaftlichen Ordnung zu werden? Im Mittelpunkt steht dabei die soziale Vermittlung der bestehenden Normen. Das Individuum trifft demzufolge bei den Freunden, der Schule, aber v.a. bei den Eltern auf Vermittler der geltenden Normen. In dem Maße, wie es sich diesen Personen und Institutionen verbunden fühlt, wird es bereit sein, die Normen anzunehmen (attachment). Hinzu kommen noch die Elemente Commitment, Involvement und Belief (vgl. z.B. Haage 1995, S. 27f). Durch die sozialen Bindungen kann letztlich die angestrebte Konformität und somit die Stabilität der Gesellschaft erreicht werden. Oder negativ ausgedrückt, jemand ist deviant, „weil seine Bindungen an die herkömmliche Ordnung in irgendeiner Weise gestört sind.“ (Amelang 1986, S. 190) Seit 1990 steht Hirschi in Verbindung mit Gottfredson vor allem für den Selbstkontrollansatz. Auch wenn das Hauptwerk zu diesem Ansatz „A general Theory of Crime“ heißt, so geht der Aussagewert doch weit über die Kriminalität hinaus. Genauer gesagt formuliert er zusammen mit Gottfredson eine Theorie der Abweichung bzw. Konformität. Die Aussagen zur Kriminalität stehen dabei beispielhaft im Zentrum der Betrachtung. Hirschi interessiert dabei weniger das Spezifische der Kriminalität (die rechtliche Sanktionierung), als vielmehr eine allgemeine Phänomenologie der Abweichung. Dies wird in dem weiteren Band der Autoren „The Generality of Deviance“ noch eindeutiger.
Anders als beim Bindungsansatz, wo die soziale Beziehung im Vordergrund stand, beschäftigt er sich hier mit der Persönlichkeit des Täters und setzt diese in Relation zur Natur des Verbrechens. Sowohl der Tat, als auch dem Täter schreibt er dabei hedonistische Eigenschaften zu. Deviantes Verhalten unterscheidet sich prinzipiell nicht vom konformen Verhalten. Deviantes Verhalten markiert aber den leichten Weg, den der direkten Bedürfnisbefriedigung. Dementsprechend wird eine deviant handelnde Person als eine charakterisiert, die in der Abwägung des Eigeninteresses v.a. die kurzfristige Befriedigung sieht und dabei die negativen Langzeitfolgen durch die folgenden Sanktionen nicht genügend beachtet (Hirschi 1994, S. 1f). Das Problem der Abweichung besteht demzufolge nicht in der fehlenden Härte der Sanktionen, sondern in der ungenügenden Verarbeitung der Sanktion durch das Individuum (Mit dieser Perspektive knüpft er an die Tradition des „inneren Haltes“ von Reckless an). Es geht ihm um die Konstitution der inneren Kontrolle, oder wie er es ausdrückt, um die Selbst-Kontrolle, die Fähigkeit, sich selbst zu disziplinieren: „We see self-control as the barrier that stands between the actor and the obvious momentary benefits crime provides“ (Hirschi 1994, S. 9).
Die Selbstkontrolle wird als Barriere zur Kategorie der Grenze und zum Gradmesser, inwieweit der Zivilisationsprozeß nachvollzogen wurde. Entsprechend wird die abweichende Persönlichkeit charakterisiert: „People who lack self-control will tend to be impulsive, insensitive, physical (as opposed to mental), risk-taking, short-sighted, and nonverbal“ (Gottfredson 1990, S. 90). Dies gilt auch für den nichtkriminellen Sanktionsbereich: „they will tend to smoke, drink, use drugs, gamble, have children out of wedlock, and engage in illicit sex“ (Gottfredson 1990, S. 19). Diese Charakterisierung der devianten Personen entspricht interessanterweise fast wörtlich der Beschreibung der „Antisozialen“ („Die Gesellschaftsfeinde“) durch den Psychiater Kraepelin, 75 Jahre vor Hirschi: „Schon als Kinder pflegen sie zu naschen, das ihnen in die Hände fallende Geld für Karussellfahren, den Besuch von Kinos, für Süßigkeiten, Zigaretten, Bier auszugeben. Sie sind anspruchsvoll, wollen überall dabei sein, sich nichts versagen [...]“ (Kraepelin 1915, S.2084 zitiert nach Bergmann 1997, S. 276).

Niedrige Selbstkontrolle wird dabei nicht erlernt, sondern ist von Geburt gegeben. Vielmehr kommt bei diesen Menschen das Nichterlernen der hohen Selbstkontrolle, das Nichtnachvollziehen des Zivilisationsprozesses zum Tragen (vgl. Gottfredson 1990, S. 94ff). Konnte die hohe Selbstkontrolle in der Kindheit nicht entwickelt werden, bestehe kaum noch eine Chance, dies nachzuholen. Der „latente Charakterzug“ wird von Hirschi als sehr stabil angesehen. „These composite measures of crime are highly stable over time“ (Gottfredson 1990, S. 253; Hirschi 1994, S. 2). Kriminalitätsbekämpfung heißt also, in der frühen Sozialisation der Person eine hohe Selbstkontrolle anzutrainieren. Hat dies nicht funktioniert, ist es kaum noch möglich, dies in späteren Jahren nachzuholen.
Schon lange bevor eine Person kriminalisiert wird, zeigt sich an ihrem Verhalten, inwieweit sie genug Selbstkontrolle entwickelt hat. „If children who offend by whining and pushing and shoving are the adults who offend by robbing and raping, it must be that whining and pushing and shoving are the theoretical equivalents of robbery and rape.“ (Hirschi 1994, S. 2) Vor allem die Eltern haben so die Möglichkeit, bis zum 8. Lebensjahr zu intervenieren. Entdeckte niedrige Selbstkontrolle wird dabei als „absence of nurturance, discipline, or training“ (Gottfredson 1990, S. 95) interpretiert, dem die Eltern 1. durch Beobachtung des Verhaltens, 2. durch das Erkennen des abweichenden Verhaltens und 3. durch effektive Bestrafung dieses Verhaltens entgegenwirken können (Gottfredson 1990, S. 97). Sozialisation wird v.a. als eine Art Zähmungsprozeß verstanden, indem durch effektive äußere Kontrolle beim Kind die Instanz der Selbstkontrolle entwickelt und gestärkt wird. So lernt es nicht nur die Sanktionen und damit den allgemeingültigen Maßstab kennen, sondern lernt auch, die eigene kurzfristige Bedürfnisbefriedigung hinter diesem zurückzustellen.
Zusammenfassend geht Hirschi von einer sich scheinbar nicht wandelnden und unhinterfragbaren Gesellschaft aus, in der das Individuum einen angemessenen Rahmen der Bedürfnisbefriedigung findet. Die Stabilität dieser Ordnung ist sowohl anzustrebendes Ziel als auch die wesentliche Perspektive des Ansatzes. Devianz ist für ihn ein Persönlichkeitsproblem und Konsequenz einer ungenügenden Disziplinierung (Sozialisation). Das Ausmaß des Defizits kann an der Quantität der entwickelten Selbstkontrolle abgelesen werden kann.

Ein einfaches Modell muß nicht falsch sein, aber es stellt sich die Frage: Bildet es die Realität treffend ab, welchen normativen Gehalt vermittelt es und ist es wünschenswert, daß es zur Anwendung kommt? Leider gibt Hirschi wenig Aufschluß über die empirische Herleitung der genannten zentralen Begriffe. Meist muß sich der Leser mit zirkulären Verweisen begnügen, die in etwa wie folgt aussehen: „Because, classical or control theories infer that offenders are not restrained by social motives, it is common to think of them as emphasizing an asocial human nature.“ (Gottfredson 1990, S. 86) Besonders deutlich wird dieser Umstand bei dem zentralen Begriff der Selbstkontrolle. Menschen mit niedriger, bzw. hoher Selbstkontrolle werden zwar bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, aber nirgends gibt es eine explizite Definition (vgl. Lamnek 1994, S. 165). Da es sich hier um eine Weiterentwicklung der eigenen Theorie handelt, kann Hirschi hier noch nicht einmal auf die Klassiker verweisen (Gottfredson 1990, S. 87).
Es drängen sich an vielen Stellen Vergleiche zum späten Freud auf, aber die Integration eines psychologischen Modells, auf deren Basis der Begriff definiert werden könnte, fehlt. Überhaupt hat sich die Bedeutung der Empirie in Hirschis Werk geändert: Während er in den 70er Jahren für seine ausführlichen Studien bekannt war, stützt er sich in seinem neuen Hauptwerk in dem wichtigen Kapitel über die Funktion der Familie weitgehend auf die ca. 40 Jahre alten Untersuchungen von Glueck/ Glueck und McCord/ McCord. (Gottfredson 1990, S. 97ff; vgl. Lamnek 1994, S. 162f) Anspielend auf diese mangelhafte Basis schreibt Bottoms: „the empirical world is more complex than Gottfredson and Hirschi allow for.“ (Bottoms 1993, S.70)

Trotz dieser Mängel lassen sich seine Begriffe aufgrund einiger expliziter und vieler impliziter Aussagen kurz diskutieren. In Hirschis Modell läßt sich der Mensch ganz auf sein Eigeninteresse reduzieren. In diesem Sinn sind alle gleich. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ist allerdings die entwickelte Selbstkontrolle. Dieser Faktor wird zum wesentlichen Element, den Naturzustand in uns selbst und somit jede Abweichung zu bekämpfen. Dies kann durchaus als Weiterentwicklung des klassischen Modells angesehen werden, „da somit die staatlich geleiteten ‘großen‘ Gefängnisse durch zahllose ‘kleine‘ selbstgeführte Gefängnisse ergänzt wurden.“ (Baumann 1996, S. 44) Anhand des Merkmals Selbstkontrolle zieht er eine harte Grenze zwischen konformen und devianten Personen, er konstruiert so „eine latente Dichotomie, die als ‘Hedonismus‘ versus ‘asketische Ethik‘ [...] zu bezeichnen wäre“ (Lamnek 1994, S. 163). Der selbstdiziplinierten Persönlichkeit steht so die spontane, lustbetonte und in diesem Sinn ungezähmte Persönlichkeit gegenüber. Ist es tatsächlich wünschenswert, diese pauschal als unerwünscht zu brandmarken? Da der Hedonismus letztlich an der Nichtbeachtung von Sanktionen festgemacht wird, wird auch jegliches berechtigte Aufbegehren und jegliche Emanzipationsbewegung dieser Seite zugeschlagen.
Es gibt bei Hirschi keine Unterscheidung zwischen berechtigtem oder unberechtigtem abweichenden Verhalten. Jegliches innovative, sozialkritische oder die eigene Persönlichkeit herausstellende Verhalten steht im Verdacht, den leichten Weg, den der Charakterschwäche, zu manifestieren. Jemand, der Sanktionen aufgrund höherer Werte in Kauf nimmt, wird so auf die gleiche Ebene gestellt wie jemand, der des schnellen Geldes wegen einen Handtaschenraub begeht. „Mit dieser Theorie läßt sich vielleicht Konformität als ein gesellschaftliches System erreichen, nicht aber der Aufbau von eigenverantwortlichem Handeln und selbstbewußtem Widerstand gegen nicht akzeptierte Normen.“ (Haage 1995 bezüglich des Bindungsansatzes, S. 236). Abgesehen von dieser unangemessenen Verallgemeinerung kommt es auch zu keiner differenzierten Betrachtung des Individuums selbst. Der Mensch wird als eine widerspruchsfreie homogene und stabile Persönlichkeit aufgefaßt. Devianz ist so ein eindeutig feststellbares Identitätsmerkmal. Der stabile „latente Charakterzug“ (Hirschi 1994, S. 2f) ist nicht nur in den verschiedenen Lebensbereichen erkennbar, sondern auch das ganze Leben hindurch konstant und nicht veränderbar. Hier wird der stigmatisierende Charakter des Ansatzes am deutlichsten. Rollenkonflikte, die mit unterschiedlichen Werteorientierungen in den verschiedenen sozialen Bezügen einhergehen, werden zugunsten der Stringenz und Plausibilität des Modells ausgespart. Hirschi koppelt sich so aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte, von den Handlungstheorien bis zur Systemtheorie, aus und verharrt auf dem Stand der 50er Jahre.
Seinem Menschenbild entsprechend geht er auch von einem homogenen, vom Konsensmodell geprägten Gesellschaftsbild aus. Dieses muß nicht differenziert werden, da ja die unterschiedlichen Sanktionssysteme aufeinander aufbauen, sich ergänzen und letztlich auf die Natur zurückgeführt werden. Konsens bezieht sich so nicht nur auf die Zustimmung zu einzelnen Gesetzen, sondern auf alle sozialen Sanktionsbereiche. Es geht ihm um einen sehr umfassenden Konsens. Sozialität stellt sich dabei als eine Art Symbiose dar: Begriffe wie Macht und Konflikt haben keine Bedeutung.[4] Die eigentliche Gefahr droht der Gesellschaft von Personen, die sich in dieses Gebilde nicht eingliedern. Es stellt sich dringend die Frage, welche Gesellschaft Hirschi für dieses Modell zum Vorbild genommen hat. Allenfalls stark auf Formierung ausgerichtete Gesellschaften wie z.B. die DDR haben zumindest in ihrer Ausrichtung Ähnlichkeiten. Aber auch hier verweisen heute bekannte Brüche und Widersprüche auf die Untauglichkeit dieses Modells. (vgl. Haage 1995, S. 233) Hierüber herrscht unter Sozialwissenschaftlern ein (fast) umfassender Konsens. Ein kleines Beispiel zur Illustration soll genügen: Die disziplinierte, an langfristigen Zielen orientierte Lebensweise wird durchaus in weiten Bereichen der Arbeitswelt gefordert und entsprechend belohnt. In weiten Teilen der erlebnisorientierten Freizeitwelt sind demgegenüber gerade Spontanität und Lustorientierung, bzw. Hedonismus gefordert. Und gerade die Orientierung an diesen Werten führt z.B. im Konsumieren materieller Güter zur Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung.

[4] Unter anderem auf die Kontrolltheorien bezogen, schreibt Robert polemisch: „[...] daß sie einer Sozialtheorie aufruht, für die sich in den außerkriminologischen Zentren dieser Diskussion keine Gesprächspartner, geschweige denn Protagonisten oder Vertreter mehr auftun lassen. [...] [Sie] hält am Konsensusmodell der Gesellschaft fest, frönt Sozialisationsvorstellungen abgestandener Provenienz und läuft einem Konzept sozialer Kontrolle nach, für das sie sich allenfalls noch auf die Rhetorik des Strafrechts und des ‘gesunden Menschenverstandes’ berufen kann.“ Robert S.29/30; Reemtsma führt diese „Fetischisierung des Konsens“ (S.32) auf ein starkes Sicherheitsbedürfnis und somit wieder auf die Angst zurück.

Der Integration in diese Ordnung, also der Sozialisation, kommt bei Hirschi eine zentrale und mehrfache Bedeutung zu. Sie ist v. a. der Prozeß, in dem aus dem asozialen Menschen ein gesellschaftsfähiges Wesen gemacht wird, ein im kleinen nachvollzogener Zivilisationsprozeß und im Sinne der Prävention die eigentliche Kriminalitätsbekämpfung.
So liegt es v.a. in der Hand der Eltern, inwieweit sich durch Erziehung, Training und Disziplinierung auf die künftige Kriminalität einwirken läßt. „Because low self-control arises in the absence of the powerful inhibiting forces of early childhood.“ (Gottfredson 1990, S. 255) Lamneks Frage, ob das Selbstkontrollkonzept als „neokonservative Pädagogik“ zu sehen sei (Lamnek 1994, S. 161), muß eindeutig bejaht werden. Sozialisation wird von Hirschi als ein rein repressiver Prozeß gesehen. Die wesentliche Aufgabe besteht darin, durch nicht zu lockere, bzw. zu harte, sondern durch effektive Bestrafung Kinder dazu zu bringen, die langfristigen Sanktionen mehr zu beachten. Daß dies nicht etwa auch durch ein Belohnungssystem erreicht werden kann (vgl. Lerntheorien), ist zwar in dem Modell stimmig, wird aber wiederum nicht belegt. Die Sozialisation wird dabei als ein einseitiger Formungsprozeß verstanden, wobei dem Kind die Rolle des passiv zu disziplinierenden Objektes zukommt. Dies widerspricht sowohl der soziologischen Debatte, als auch der aktuellen Sozialisationforschung, in der die Interaktion im Mittelpunkt steht und das Kind als produktiver Entwickler der Realität (Hurrelmann) gesehen wird (vgl. Bottoms 1993, S. 72).
Es geht in dieser Kritik nicht um die grundsätzliche Bedeutung der sozialen Kontrolle oder der Beziehung zwischen Sozialisationsinstanzen und den Kindern, beides ist in ihrer Bedeutung auch für die Entwicklung unbestritten. Das von Hirschi und Gottfredson entwickelte Modell ist aber in keiner Weise in der Lage, diese komplexen Zusammenhänge angemessen zu bearbeiten. Auch der Anspruch einer allgemeingültigen Theorie konnte in keinster Weise eingelöst werden, einfach deshalb, weil sie sich an abstrakten theoretischen Annahmen orientiert, die der empirischen Realität, v.a. der entwickelten Industriegesellschaften, nicht entsprechen. Schon allein daraus wird klar, daß es den Autoren weder um eine differenzierte Darstellung der Gesellschaft, noch um eine entsprechende Darstellung der sich deviant verhaltenden Personen geht. Mit dem Konsensmodell und der hedonistischen Persönlichkeit reproduziert er allenfalls überkommende Bilder einer allgemeingültigen Ordnung, bzw. des Menschen im Naturzustand, ohne sie tatsächlich an der empirischen Realität zu überprüfen. Ihnen geht es um die Grenze zwischen beidem, bzw. um die Frage, wie die alte Grenze zwischen der Moderne und der Barbarei neu bestimmt und dadurch gesichert werden kann. Im wesentlichen verweist er auf den Maßstab der Ordnung, den er für gültig bzw. wünschenswert hält: nicht mehr Gehorsam und Unterordnung, sondern Anbindung und Selbstkontrolle stehen im Mittelpunkt. Ein Abweichen von diesem Maßstab wird von ihm quasi gleichgesetzt mit einen Rückfall in den Naturzustand.

Zum Abschluß soll noch Heitmeyer, als Kritiker des von Hirschi vertretenen Maßstabes, zu Wort kommen: „Diese Debatte um Bindungsverluste übersieht, daß Bindungen ein Integrationsmodus von traditionalen Gesellschaften darstellt, der weitgehend auf Sicherung von Abhängigkeiten basiert. [...] Die Wiederherstellung unbefragter Loyalitäten durch Bindungen kann in modernen Gesellschaften nur durch Zwang und Gewalt erreicht werden. Insofern soll Gewalt mit Zwang bekämpft werden. Der Kreislauf von Gewalterfahrungen und Gewalttätigkeit würde damit auf Touren gebracht“ (Heitmeyer 1995, S. 421f).

 
   

3 Grenzübergänge
- Heitmeyer

 

Geht es um Jugendgewalt, ist Heitmeyer und sein Erklärungsansatz nicht mehr wegzudenken. Seit dem Erscheinen seiner Rechtsextremismusstudie gibt es niemanden, der auf diesem Gebiet so wirkungsvoll seine Thesen vertritt, wie eben Heitmeyer mit dem Desintegrationsansatz. Schon beim ersten Blick in seine Bücher fällt dabei wohltuend ein großer Unterschied zu Hirschi ins Auge: Heitmeyer geht nicht stillschweigend von einem bestimmten Gesellschaftsbild aus, sondern setzt sich dezidiert mit der aktuellen Situation, vor allem in Deutschland, auseinander.
Im wesentlichen greift er dabei auf die Beschreibung der „Risikogesellschaft“ von Beck zurück. Die Differenzierung der Gesellschaft hat demzufolge einen „sekundären Modernisierungsschub“ erhalten und sich so zur Vorkriegszeit wesentlich verstärkt. Bei Heitmeyer wird dies vor allem anhand des Begriffs der „Individualisierung“ thematisiert. Alte Strukturen, scheinbar allgemeingültige Wertmaßstäbe, kurz der übliche Orientierungsrahmen löst sich auf und das Individuum ist immer stärker in seiner Orientierung auf sich selbst zurückgeworfen. Das Individuum wird so auch für die Gesellschaftsanalyse zur zentralen Kategorie.

Für diese neue, hochmodernisierte Gesellschaft will Heitmeyer eine Erklärung für das alte Thema der Jugendgewalt liefern. Wie Heitmeyer entsprechend dem obigen Zitat richtig erkennt, wäre es falsch, in einer so veränderten Gesellschaft vom gleichen Integrationsmodus auszugehen wie in einer traditionalen Gesellschaft. Was aber heißt Integration in eine individualisierte Gesellschaft, was heißt soziale Kontrolle und vor allem, was heißt Abweichung, wenn der Maßstab, von dem Hirschi noch ausgeht, in Auflösung begriffen ist? Dieser Fragestellung gehen verschiedene Autoren und Autorinnen nach und zeigen auf, daß es ein sehr komplexes und auch oft widersprüchliches Thema ist. So diskutiert Hahn kriminelle Abweichung auch als eine Form von Anpassung (Hahn 1995, S. 30ff) und schreibt mit Bezug auf eine Studie von Hermann/ Kerner, daß das kriminelle Verhalten „subjektiv als Anpassung an die sozialstrukturellen Handlungsbedingungen gesehen werden kann.“ (Hahn 1995, S. 33). Auch Blinkert schreibt: „Danach kann also abweichendes Handeln als eine ‘rationale Form der Konfliktlösung‘ [...] in modernen, ‘individualisierten‘ Gesellschaften, insofern als Anpassung, gewertet werden."(Blinkert 1988, S. 398)
Bei so einer Betrachtungsweise ständen die unterschiedlichen Aneignungsformen der unterschiedlichen Gesellschaften durch das Individuum im Vordergrund. Es müßte überlegt werden, wie gut die Verarbeitung der jeweiligen Situation angepaßt ist und inwieweit sie noch von der Gesamtgesellschaft getragen werden kann. Die differenzierte Gesellschaft würde sich in einem differenzierten Abweichungsmodell widerspiegeln. Stattdessen gibt es laut Heitmeyer trotz aller Differenzierungen eine einfache Aufteilung der Gesellschaft, nämlich in die Menschen, die integriert auf der „Sonnenseite“ leben und in diejenigen, die sich mit der „Schattenseite“ begnügen müssen. Die Zugehörigkeit zur jeweiligen Seite wird nicht etwa bestimmt durch Herrschaftsverhältnisse oder Besitz materieller Güter, sondern primär dadurch, wie die Person in der Lage ist, die komplizierten Verhältnisse zu verarbeiten. Im Zentrum des von ihm konstruierten Maßstabes steht wie bei Hirschi die Persönlichkeitsstruktur. Trotz seines Selbstbildes als „gesellschaftskritischer Jugendforscher“ (Baacke 1985, S. 12) greift er bei seinem Identitätskonzept auf den „normativen Kern“ der „autonomen Handlungsfähigkeit“ zurück, wohlwissend, daß in einer „spätbürgerlichen Gesellschaft“ gerade dies die zentrale Kategorie ist. Um diese Autonomie zu erreichen, haben die Individuen die komplexe Aufgabe, die Widersprüche der Gesellschaft in ihre Identität zu integrieren. Dazu müssen nach Heitmeyer drei Fähigkeiten ausgebildet werden: 1. Die Distanzierungsfähigkeit, verstanden als „kritisches Bewußtsein, um sich gegenüber Erwartungen und Anforderungen zur Wehr zu setzen.“ 2. Ambiguitäts- und 3. Ambivalenztoleranz. Bei den beiden letzten Punkten geht es um das „Aushalten“ von unklaren, mehrdeutigen Situationen und entsprechenden Rollenerwartungen (Heitmeyer 1992, S. 88/89). Dieser Umgang ist Ausdruck einer „autonomen“ oder „eigenständigen Identität“. Anders ausgedrückt: Die aktuelle widersprüchliche Gesellschaft (bzw. Heitmeyer) fordert „eigenständige Identitäten“, die Dank dieser Anpassung mit Autonomieräumen belohnt werden, die sie als Sonnenseite erleben können.[5] Alle, die diese hohen Anforderungen nicht erfüllen, werden als defizitäre Persönlichkeiten thematisiert und analysiert. Sie sind das Klientel, das Heitmeyer seit über 10 Jahren zu erklären versucht, angefangen mit seiner Rechtsextremismusstudie, unterschiedlichen Studien zu gewalttätigen Jugendlichen bis zu den islamischen Fundamentalisten: Menschen, die jenseits der Grenze dieses Integrationsmodus leben.

Da er die Perspektive des Ideals der Sonnenseite auch bei der Betrachtung der Schattenseite beibehält, ergibt sich so schon die wesentliche Aussage über die Menschen jenseits der Grenze: sie sind gegenüber diesem scheinbar allgemeingültigen Maßstab defizitär, sie können ihm, aus welchen Gründen auch immer, nicht genügen. Was fehlt, ist eine genauere Beschreibung der Defizite und eine Begründung, wie es zu ihnen gekommen ist.
Diese Lücke zu schließen ist die Aufgabe all seiner Studien. Sie sind dabei immer ähnlich aufgebaut. Zu Beginn beschreibt er oft kritisch die bestehende Gesellschaft, weist auf Ungleichheiten und Widersprüche hin, stellt sein Identitäts- und Sozialisationsmodell vor und leitet daraus seine Desintegrationsthese als Erklärung ab. Diesem theoretischen Teil folgt meist ein in seiner Fülle an Informationen interessanter empirischer Teil. Hier sollen vor allem die Personen, die auf der Schattenseite stehen, charakterisiert werden. Dabei interessieren ihn auch in den qualitativen Teilen vor allem die Kategorien, die sich aus der Desintegrationsthese ableiten lassen: wie verarbeiten die untersuchten Jugendlichen die Individualisierung, wie läßt sich ihre „Verunsicherung“ und „Desorientierung“ kennzeichnen, welchen Stellenwert hat dabei die Gewalt usw.? Hieraus entwickelt er typische Biographien der Schattenseite, die dann u. a. als „Der Deviante“, „Der Aggressive“ usw. dargestellt werden. Seine Thesen, die sich um den Begriff der Desintegration gruppieren, kann er so empirisch bestätigen.

Die Desintegrationsthese wird von Heitmeyer zum ersten Mal schon 1985 öffentlich vertreten. Damals wies er auf die Gefahren der „Selbstwidersprüchlichkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses“ (Heitmeyer 1985, S. 195) hin. Rechtsextreme Gewalt interpretierte er damals als „verzweifelte Antwort auf die skizzierte Selbstwidersprüchlichkeit“, als „Versuch des Aufbaus einer eigenständigen Identität“. Dabei kam er zu der aus heutiger Sicht interessanten Bewertung: „Insoweit ist die Ansprechbarkeit für Gewalt alles andere als irrational, sondern höchst rational, weil sonst kaum Möglichkeiten des Wehrens und des Erkämpfens einer eigenständigen Identität gegeben erscheinen.“ (Heitmeyer 1985, S. 193/194) Nach dem Erscheinen der „Risikogesellschaft“ von Beck (1986) verändert sich Heitmeyers Vokabular und die Perspektive. Kern ist nun die Individualisierung als aktuell wesentliche Form der Differenzierung der modernen Gesellschaft. Sie überlagert die alten Ungleichheiten (vgl. Heitmeyer 1995, S. 35ff) und ist Grundlage der gesellschaftlichen Widersprüche, die jetzt Ambivalenzen genannt werden. Noch Anfang 1993 definiert Heitmeyer in diesem Zusammenhang „Desintegrationsprozesse“ als:

  • „Auflösungsprozesse von Beziehungen zu anderen Personen oder von Lebenszusammenhängen (sei es der Familie oder in Milieus)
  • Auflösungsprozesse der faktischen Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen [...].
  • Auflösungsprozesse der Verständigung über gemeinsame Wert- und Normvorstellungen“ (Heitmeyer 1993, S. 4)

Wohlgemerkt, Heitmeyer bezieht diese Aussagen auf die Gesellschaft. Desintegration benennt einen gesellschaftlichen Prozeß der Auflösung alter Strukturen. Dieser Prozeß betrifft die ganze Gesellschaft und nicht nur einzelne Gruppen. Desintegrationsprozesse „lassen sich nicht mehr als Ausgrenzung von Randgruppen begreifen oder als eine Aufspaltung in eine Zweidrittel - Eindrittel - Gesellschaft.“ (Heitmeyer 1993, S. 4) Entsprechend diesem strukturanalytischen Begriff betrachtet er die „gesellschaftlichen Strukturen als Ursache der Zunahme des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik.“ Desintegration als wesentliches strukturanalytisches Kennzeichen einer hochmodernisierten Gesellschaft wird als Ursache der rechten Gewalt angesehen. In den Auflösungserscheinungen der Gesellschaft liegt das Problem, welches sich bei einzelnen defizitären Jugendlichen in Form der Gewalt ausdrückt. Sie sind die Schwachstelle und nicht die Ursache. Demzufolge müßte im Zentrum einer Ursachenanalyse, die Heitmeyer anstrebt, die allgemeine Struktur der Gesellschaft stehen. Statt dessen interessiert er sich in seinen empirischen Erhebungen ausschließlich für die Beschaffenheit der Schwachstelle. Die einzelnen Jugendlichen als defizitäre Persönlichkeiten stehen im Zentrum. Dieser Perspektive entsprechend tritt ein anderer Desintegrationsbegriff in den Vordergrund, der vor allem in der Studie über „Gewalt“ und über „Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen“ deutlich wird. Auf der Mikroebene geht es um den Nachweis einer Korrelation zwischen Desintegrationserfahrungen, deren defizitärer Verarbeitung und gewalttätigem Verhalten. Dabei wird auf dieser Ebene zwischen „struktureller“ und „subjektiv emotionaler Desintegration“ (Heitmeyer 1995, S. 142) unterschieden. Konkret sieht das so aus: Die Sozialisation des „Mitläufers“ Ewald ist durch „gravierende emotionale Desintegrationserfahrungen geprägt“. Der Stiefvater hat ihm über Jahre vermittelt, unerwünscht zu sein und seine Mutter konnte das nicht verhindern. Die Folge, Ewald holt sich das „Gefühl der Akzeptanz und des Dazugehörens“ bei den Skins (Heitmeyer/Müller 1995, S.84/85). Oder der „Aggressive“ Tobias: er kommt zwar nicht aus einer strukturell desintegrierten Familie, aber auch bei ihm taten sich „schon früh emotionale Desintegrationsprozesse auf in Gestalt mangelnder Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung [...]. Die Hinwendung zu jugenddominierten Subkulturen [...] entsprang daher zuallererst dem Bedürfnis, sich auf anderen Feldern Geltung zu verschaffen, die ihm zuhause subjektiv versagt blieb.“ (Heitmeyer/Müller 1995, S. 107) Der inhaltliche Zusammenhang soll hier nicht weiter hinterfragt werden, aber was hat das mit dem o. g. Desintegrationsbegriff zu tun?
Alle längst bekannten negativen Einflüsse auf eine gelungene Sozialisation wie Erfolgsdruck, instabile Rahmenbedingungen, Gefühlskälte durch die Eltern usw. werden hier unter den Begriff „Desintegration“ subsumiert. Der Begriff, zu einer beliebigen Variable degradiert, verliert zunehmend seine Aussagekraft, ermöglicht aber immer weitere Anwendungsbereiche des Desintegrationsansatzes. Obwohl doch nach Heitmeyers eigener Analyse die ganze Gesellschaft desintegriert, genügt ihm die Beschreibung von desintegrierten Jugendlichen als Erklärung zur Verortung auf der Schattenseite. Aus dem Desintegrationsbegriff, der Auflösungsprozesse beschreibt, wird ein Begriff, der eine Position im Sinne von nicht integriert kennzeichnet. Desintegration wird zum Stigma von Jugendlichen, die aufgrund der falschen Verarbeitung auf der Schattenseite stehen. Den Zusammenhang noch verschleiernd werden sowohl der strukturanalytische, als auch der stigmatisierende Begriff in den Studien, je nach Argumentation, parallel benutzt. Daß diese desintegrierten Jugendlichen aufgrund ihrer Defizite auf Gewalt und „naturnahe“ Kategorien zurückgreifen, scheint in dieser Konstellation nur selbstverständlich. Spätestens seit er sich von dem auf Beck basierenden Begriff in der konkreten Empirie löst, integriert Heitmeyer seinen Ansatz in die lange Tradition der um Grenzziehung bemühten Ansätze.

Zurück zum Ausgangspunkt. Heitmeyer sieht sich mit einer hoch differenzierten und in sich widersprüchlichen Gesellschaft konfrontiert. Schon im Aufsatz über die „Neuen Widersprüche“ macht sich dieser für ihn bedrückende Eindruck breit. Nicht nur Jugendliche, auch Erwachsene sind in den sich potenzierenden Widersprüchen verwickelt und stecken in einem Orientierungsdilemma (Baacke 1985, S. 20/21). So wundert es nicht, daß er das sich Orientieren als wichtigstes Problem erlebt und hervorhebt. Er begeht aber den Fehler, dieses Problem zu verallgemeinern, ohne diese Verallgemeinerung zu begründen oder gar empirisch zu belegen. Gerade in einer hochdifferenzierten Gesellschaft ist es eher zweifelhaft, daß alle Personen das gleiche Problem haben. Rommelspacher thematisiert dieses „Vorurteil der Gleichheit“ als eine Form der Dominanz: „Es wird dabei stillschweigend davon ausgegangen, daß ‘dort‘ und ‘hier‘ dieselben Probleme anstehen und damit auch nach denselben Lösungen zu suchen sei.“ (Rommelspacher 1995, S. 17) Schulze schreibt über Menschen unter „harten materiellen Bedingungen“: „Ihr Handeln wird durch Probleme motiviert, ihre Gedanken haben ein Thema, ihr Dasein hat eine Richtung: nach oben. Menschen, die nach oben wollen, haben Mittelkrisen, Menschen, die oben sind, haben Sinnkrisen“ (Schulze 1995, S. 60/61) „Orientierungslosigkeit ist demnach ein Problem der Mächtigen, der Privilegierten und Gesättigten, weil für sie das soziale und materielle Umfeld das Gewicht der Notwendigkeit weitgehend verloren hat.“ (Rommmelspacher 1995, S. 13)

Für Heitmeyer scheint diese, aus der bestehenden Ungleichheit abzuleitende Sichtweise, keine Bedeutung zu haben. Für ihn gibt es nicht nur ein allgemeingültiges Problem, das „Orientierungsdilemma“, sondern auch einen allgemeingültigen Lösungsweg, die Herausbildung der „eigenständigen Identität“. Personen, die offensichtlich nicht in aufgelösten sozialen Welten leben, werden nicht als Gegenbeleg zu seiner These der Allgemeingültigkeit herangezogen. Vielmehr dienen sie als problematische abweichende Personen als Kronzeugen für seine These. Auf dieser Matrix kann sich jeder, der sich auf der Sonnenseite wähnt, als Vorreiter sehen und das Anderssein kann eindeutig auf Defizite zurückgeführt werden. Wie bei allen Ausgrenzungsmodellen dient auch bei Heitmeyer die Beschreibung der abweichenden Persönlichkeiten letztlich der Unterscheidung zu uns, den Integrierten. Das Spezifische wird herausgearbeitet, Defizite als solche gekennzeichnet und Wege der Überwindung (Grenzübergänge) werden erarbeitet. So gliedert sich auch seine Beschreibung der Personen jenseits der Grenze fast nahtlos in die Tradition der Definition des Barbarischen ein: Der sekundäre Modernisierungsschub der Gesellschaft kann auf der individuellen Ebene nicht angemessen nachvollzogen werden. Ihre Persönlichkeitsstruktur ist defizitär, sie haben keine eigenständige Identität und somit auch keine autonome Handlungsfähigkeit entwickeln können. (vgl. Heitmeyer 1992, S. 80ff; Baacke 1985, S. 190ff) Um trotzdem zu einer Identität zu kommen und sich eine „surrogathafte Handlungssicherheit“ aufzubauen, müssen sie auf einfache Orientierungsmuster zurückgreifen (vgl. Heitmeyer 1992, S. 92ff). Ihre Ohnmachtserfahrungen wandeln sie in Gewalt um und begründen diese dann mit „naturnahen“ Kategorien. Wie bei Hobbes und Hirschi erscheinen diese Jugendlichen wie Fossilien vergangener Zeiten, wie Fremdkörper in einer kultivierten Welt.

Eigentlich überrascht es, daß der populärste 'linke‘ Ansatz nicht die Tradition der Definitionstheoretiker fortsetzt. Peters erklärt dies mit der Angst vieler definitionstheoretischer Soziologen, eine entsprechende Analyse „brächte rechte Gewalttäter am Ende in eine Opferposition.“ (Peters 1995, S. 35) Bei den (rechtsextremen) Gewalttätern überlagern sich demzufolge verschiedene Grenzziehungen, die von unterschiedlichen Gruppen und Institutionen vorgenommen werden. Die Grenze wird vom Recht getragen, breite konservative Gruppen, die in diesen Personen v.a. die Unruhestifter sehen, unterstützen sie, aber auch Personen, die schon immer starke Vorbehalte gegenüber Gewalt und rechten Ideologien hatten, fordern diese Grenze. Die gemeinsame Grenzziehung schafft in einer desorientierten Gesellschaft einen Rahmen, der anhand einfacher Kategorien eine Orientierung erlaubt, die Verunsicherung überwinden hilft und eine entsprechende Handlungsfähigkeit ermöglicht. So scheint es Heitmeyer nicht primär darum zu gehen, ein neues, differenziertes Abweichungsmodell zu entwickeln, sondern darum, in einer desorientierten Gesellschaft Orientierung zu geben. Und ein einfaches Abweichungsmodell wie das beschriebene, das eindeutig vorgibt, was von was zu trennen ist, ist dazu besser geeignet, als sich auf die Paradoxien von Individualisierung und Integration einzulassen.

Gerade dies und nicht seine kritischen Äußerungen oder sein ausführliches empirisches Material machen Heitmeyers Ansatz so populär. Eine Ausnahme bildet da seine neuere Untersuchung zum „Verlockenden Fundamentalismus“. Wie Heitmeyer richtig analysiert, ist die Reaktion auf diese Studie deshalb so vehement, „weil sie stört“ (Heitmeyer 1997, S. 10). Seine Argumentation in dieser Studie ist, mit ihren Stärken, aber auch mit ihren Schwächen, im wesentlichen gleich geblieben. Im Unterschied zu den anderen Untersuchungen gibt es aber jetzt Personen, die die von ihm vollzogene Grenzziehung nicht mittragen wollen (vgl. Bukow 1997, S. 14/15). Die Stigmatisierung der (rechtsextremen) Gewalttäter hat dagegen außer dem rechten Rand niemanden gestört.

[5] "Bezeichnenderweise wählt Heitmeyer in seinen Ausführungen Formulierungen, die nicht auf die Veränderung der Wirklichkeit abzielen, sondern auf das Aushalten eines Lebens unter fremdgesetzten Bedingungen, womöglich im Gefühl der eigenen Autonomie und Unabhängigkeit." Leiprecht S.199
   
4 Grenzabbau
- Hallesche Biographieforschung gewalttätiger Jugendlicher
 

Es ist schon erstaunlich, inwieweit bestimmte Bilder immer wieder reproduziert werden. So scheint es völlig selbstverständlich, daß jugendliche Gewalttäter den Anforderungen der Gesellschaft nicht entsprechen können und aufgrund ihrer defizitären einfachen Struktur auf unzivilisierte Methoden zurückgreifen müssen. Das Gegensatzpaar letztlich animalischer Gewalttäter versus zivilisierter Normaler ist so verwurzelt, daß es weder thematisiert, geschweige denn begründet werden muß. Gewalttätige Jugendliche haben sich aufgrund ihrer Gewalttat selbst außerhalb der sich gewaltfrei definierenden Zivilisation positioniert und können so mit den Barbaren identifiziert werden. Im Unterschied zum konstanten Bild der Barbaren wird die Ordnung immer wieder neu definiert.
Hier kämpfen die modernen Eliten um die Durchsetzung ihres Maßstabes. Während Hobbes entsprechend seiner absolutistischen Vorstellung die Unterordnung in den Mittelpunkt stellte, plädiert Hirschi in seinem konservativen Gesellschaftsbild für die effektive Selbstkontrolle der Affekte. Heitmeyer propagiert hingegen aus seiner mittelschichtsorientierten liberalen Perspektive die „eigenständige Identität“. Die Erforschung der „abweichenden Persönlichkeit“ dient so v.a. der Erforschung der jeweils im Bezug auf den bevorzugten Maßstab bestehenden spezifischen Defizite der betroffenen Personen. Bei Nichtbeachtung dieses Maßstabs droht nach wie vor der Naturzustand bzw. die Barbarei. Für diese Ansätze haben die Jugendlichen also die Funktion, diese Bedrohung zu plausibilisieren. Dem auf das spezifisch Defizitäre konzentrierte Forschungsinteresse entspricht die Wahl der Methode: neben der quantitativen Untersuchung kommen in den qualitativen Erhebungen ausschließlich hypothesen- bzw. leitfadenorientierte Methoden zum Einsatz, die von vornherein auf diese Kategorien fokussieren.

Die „Hallesche Biographiestudie zur Jugendgewalt“ hat nicht den Anspruch, einen konkurrierenden Erklärungsansatz zu entwickeln. Im Zentrum der kriminologischen empirischen Arbeit steht die Biographie des jugendlichen Gewaltstraftäters. Wir nähern uns wissenschaftlich einem interessanten Personenkreis, um diesen Außenstehenden verstehbar zu machen. Uns geht es um die Persönlichkeit der als abweichend definierten Personen und nicht um abweichende Persönlichkeiten. Der Personenkreis der Untersuchungsgruppe wird bestimmt durch die strafrechtliche Gewaltdefinition. Darüber hinaus werden aber keine Vorannahmen getroffen. Nicht das spezifisch Defizitäre, sondern dem Wesentlichen dieser Personen gilt unser Interesse.
Seit 1993 wurden unter dieser Fragestellung ca. 30 Jugendliche aus Sachsen-Anhalt untersucht. Zur Kontrastierung dieser Personen wurden noch 30 weitere Interviews mit Jugendlichen hinzugezogen. So können für die Untersuchungsgruppe zentrale Kategorien, wie z.B. Gruppenzugehörigkeit, Illegalität usw., mit Biographien verglichen werden, die nicht zur Untersuchungsgruppe gehören. Devianz wird zum einen mit Punks und Drogenabhängigen kontrastiert, die ebenfalls als deviant gelten, aber nicht gewaltkriminell sind. Zum anderen werden z.B. Lehrlinge und Studenten herangezogen, die das Stigma der Devianz nicht auf sich beziehen. Zum Thema der Gewalt wurden u.a. Polizisten, Bundeswehrsoldaten und Boxer herangezogen, also Personen für die legale Gewalt von Bedeutung ist.

Um den Jugendlichen möglichst viel Freiraum zur Darstellung ihrer Biographie zu geben, führten wir mit ihnen biographieanalytische narrative Interviews. Diese Interviews sind weder hypothesengelenkt, noch werden sie durch einen standardisierten Leitfaden strukturiert. Der Jugendliche ist der Experte seine Lebens und so steht seine Biographieerzählung absolut im Vordergrund. Unsere Aufgabe war es v.a., uns im aktiven Zuhören auf das Gegenüber einzulassen. Erst am Ende brachten wir noch einige uns interessierende Kategorien wie z.B. Gewalt und die Wende ein. Auch in der Analyse geht es darum, die Kategorien des Jugendlichen auf der Basis seiner Sinnwelt zu verstehen. Erst in der darauf folgenden Abstraktion erfolgt eine Distanzierung. In jedem Interview und jeder Analyse muß das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz neu ausgehandelt werden. Dies bleibt eine schwierige aber lohnende Gratwanderung. Wir gelangten so zu einem Datenmaterial, das unter einer eingeschränkten Perspektive von Hypothesen nicht gewonnen werden kann.
Bei der Analyse der so erlangten Biographieerzählungen fiel uns bald eine Tatsache auf, die schon als erstes Ergebnis der Studie gewertet werden kann: Das aus unserer Sicht entscheidende gemeinsame Merkmal aller Personen der Untersuchungsgruppe, die Gewalt bzw. Gewaltstraftat, spielte in den Interviews eine völlig unterschiedliche Rolle. Für einige Jugendliche ist diese Kategorie ebenfalls zentral, die Gewalttat wird beschrieben, erklärt, regelrecht analysiert. Andere erwähnen die Gewalt überhaupt nicht oder nur beiläufig, ohne hierin etwas erklärungsbedürftiges zu sehen. Das öffentliche Interesse an der Kategorie Gewalt findet also keine eindeutige Entsprechung im subjektiven Erleben der Jugendlichen. Dies vorschnell als ein verschweigen und verleugnen zentraler Aspekte der Biographie durch den Erzähler zu interpretieren, würde nur verdeutlichen, wie wenig der Analysand in der Lage ist, seine Außenperspektive zu verlassen. Eine andere Kategorie fällt dagegen in nahezu allen Erzählungen ins Auge – die der „aufgeschichteten Ausgrenzungserfahrungen“.
Die verschiedenen Jugendlichen bearbeiten ein gemeinsames Thema: das der Ausgrenzung aus dem, was sie als gesellschaftliche Normalität erleben. Die Bearbeitung findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen statt. Zum einen in der Form konkreter Ein- und Ausgrenzungen bestimmeter Personen, Gruppen und Institutionen. Zum anderen als Ausdruck der Beziehung zur gesellschaftlichen Normalität, also die Verortung als normal oder abweichend. Gerade das Spannungsverhältnis zwischen diesen verschiedenen Ebenen begann uns zu interessieren: Es geht um äußerst komplexe Zusammenhänge, wenn sich z.B. Skins als eigentliche Kämpfer für dieselbe Gesellschaft beschreiben, die sie als Abweichler etikettiert und deren Definitionsmacht sie aber dennoch akzeptieren. Jugendliche, die sich eindeutig in die Welt der Eltern integriert sehen, verorten sich nach der Inhaftierung als Abweichler, usw. Auf der Basis der Kategorie der Bearbeitung der aufgeschichteten Ausgrenzungserfahrungen konnten schließlich vier Typen herausgearbeitet werden, die in der folgenden kurzen Diskussion skizziert werden.

Das Hauptmerkmal des Typus Äußerer Konflikt liegt in der Distanz der betroffenen Personen zur Normalität (dem gesellschaftlichen Mainstream) bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit ihr. Sie leiden darunter, daß ihr eigenes positives Selbstbild nicht von der Gesellschaft geteilt wird. Sie stehen außerhalb und sehen sich den alltäglich erfahrenen Diskriminierungen gegenüber in der Defensive. Ihre Handlungen werden im hohen Maße von dieser konflikthaften Situation bestimmt. Gerade diesem Umstand kann Hirschi nicht gerecht werden. Für ihn gibt es zur Kosten- Nutzen Abwägung nur ein Relevanzsystem. Diese Jugendlichen beharren aber gerade auf ihrem eigenen System, das im Konflikt zur Normalität steht, demgegenüber sie aber konform sind. Der Skin Oskar z.B. beteiligte sich an einem Überfall, bei dem ein Punk getötet wurde. Die strafrechtliche Sanktionierung war für ihn absehbar, demnach müßte es nach Hirschi eine nur kurzfristig abgewägte Handlung gewesen sein. Daß Oskar so vom Mitläufer zu einer gefestigten Skinidentität gelangt, wäre für Hirschi unerheblich, zum Verständnis der Handlung aber zentral! Die Inhaftierung ist für Oskar ein weiterer ärgerlicher Ausdruck des Konfliktes der Szene mit dem Staat und nicht eine Konsequenz der Tat. Die Folgen der Tat waren für ihn primär positiv und dies eben nicht nur kurzfristig. „Aber jetzte bin ich jetzt vier Jahre in der Szene und is wirklich schöne Zeit gewesen bis jetzte och trotz des Knastes hier. Weil auch hier im Knast kann man Verbindungen knüpfen und so k' viele Leute kennenlernen, größtenteil sind sowieso alle rechtsradikal die hier drinne waren oder hier drinne sind.“

Ähnliches gilt für den Typus Begrenzung. Auch diese Personen orientieren sich an den Regeln einer sozialen Welt, die für Hirschi keine Relevanz hat. Jack z.B. ist stark in der Welt des Vaters integriert. Hier lernt er die ihm zentralen Regeln, wie z.B. daß Gewalt ein Mittel für einen Mann ist, Probleme zu lösen. U.a. in der Schule wird er mit dem Maßstab der Normalität konfrontiert. Im Gegensatz zu Oskar beschäftigt er sich aber nicht ausgiebig mit diesem Bereich, sondern zieht sich in seine Welt zurück. Hier kennt er sich aus und kann konform leben. Die Normalität des gesellschaftlichen Mainstreams interessiert ihn nicht, sie bleibt ihm fremd. Durch das Zurückweichen vor der Normalität, geht er Konflikten aus den Weg und kann sich weiterhin eindeutig verorten. Die Auseinandersetzungen mit dem Mainstream führen nicht zu einer Beschäftigung mit demselben, sondern zu einer eindeutigeren Definition der eigenen Welt. Die Aktionen des Mainstream (z.B. Schulverweis) machen ihm klar, wo die Grenzen seiner Welt sind, in die er sich zurückzieht und integriert. Er ist kein Schläger, aber wenn es sinnvoll ist (z.B. um an Geld zu kommen), ist er auch bereit zuzuschlagen. Anbindung an den Vater und abweichendes Verhalten fallen bei Jack zusammen. Es ist klar, daß Hirschi keinen Zugang zu Jack erreicht. Hier stehen sich zwei auf Eindeutigkeit bedachte Welten gegenüber, die beide nicht bereit sind, sich mit der anderen Seite zu beschäftigen. Trotzdem gibt es einen interessanten Aspekt: Obwohl Jack sich scheinbar konform verhält, bekommt er nach den ersten öffentlichen Sanktionen Ärger mit dem Vater. Dieser tadelt ihn nicht bezüglich seines konkreten Verhaltens, sondern weil er dies in der Öffentlichkeit gemacht hat. Jack hatte in seiner Einsozialisation in die Welt des Vaters diese Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Bereich noch nicht aufgenommen. Der Vater demgegenüber weiß um die Präsenz der Normalität in der Öffentlichkeit. Bei fortschreitender Integration wird Jack lernen, der Sanktion aus dem Weg zu gehen.

Auch die Jugendlichen, die ihre Ausgrenzungserfahrungen im Typus Normalität bearbeiten, haben eine klare Position zur gesellschaftlichen Normalität. Das wesentliche Merkmal dieses Typus‘ ist die eindeutige Verortung außerhalb dieser Normalität. Ihre Position wird durch die Nichtzugehörigkeit bestimmt. Ihre Normalität ist es, außerhalb zu stehen. Dies haben sie meist aufgrund einer langen Heimkarriere schon früh in ihr Selbstbild integriert. Ihnen fehlt also im Gegensatz zum Typus Äußerer Konflikt das positive Selbstbild. Wie diese, aber im Gegensatz zu den Personen der Begrenzung setzen sie sich mit dem Mainstream auseinander. Sie sind sich ihres Anderseins bewußt und wissen gleichzeitig, daß der Mainstream für sie unerreichbar ist. Sie sind viel stärker individualisiert als die Personen der Begrenzung und versuchen so ihren individuellen Weg entsprechend ihres Status‘ zu finden. Dies äußert sich meist durch ein arrangieren mit ihrer Situation und dem Versuch trotzdem ein positives Leben zu führen. Dies kann z.B. in Form einer Berufskriminalität geschehen, bei der es eben auch die Sanktion als Berufsrisiko gibt oder es drückt sich in dem Versuch aus, z.B. die Haft für sich nutzbar zu machen. Nachdem Achim die Strukturen des Gefängnisses verstanden hatte, konnte er diesem Aufenthaltsort durchaus positive Seiten abgewinnen. Draußen erwartet ihn ein Leben, das ihn auf allen Ebenen überfordert. Jörg empfindet es als Ungerechtigkeit, daß er nach der Wende aus dem Heim entlassen wird. Dies war die einzige Heimat, die er kennengelernt hatte. Schon dieser kurze Einblick macht verdeutlicht, daß Sanktionen oft ganz anders interpretiert werden, als dies von Hirschi erwartet wird.

Anders ist dies bei dem Typus Innerer Konfliktes. Diese Jugendlichen nehmen die Sanktion durchaus als Bestrafung ihres Verhaltens wahr. Sie kennen diesen Maßstab von ihrer am Mainstream orientierten Herkunftsfamilie. Sie leben zeitweise in einer Welt der Kumpels, die im Gegensatz zu dieser Herkunftsfamilie steht. In dieser Welt gelten andere Regeln und hier begehen sie, konform mit dieser Welt, ihre Delikte. Besonders bei öffentlichen Sanktionen führt dies zu inneren Konflikten. Sie wollen die Anbindung an die Familie nicht verlieren, also nicht eindeutig als abweichend stigmatisiert werden. Demzufolge müssen sie beide Seiten integrieren. Die Folge sind Identitätsprobleme und Selbstzweifel. Sie verstehen nicht, warum sie trotz dieser Familie „Scheiße bauen“. Stefan geht sogar soweit, anzunehmen, daß er vielleicht gar nicht das leibliche Kind seiner Eltern ist. Diese Probleme werden aber erst relevant, wenn sie Position zu ihrer Tat beziehen müssen. Sie folgen dabei durchaus der Argumentation von Hirschi und sehen ihr Verhalten als persönliches Versagen an. Die Beziehung zu ihrer Gewalttat wird somit von zwei unterschiedlichen Interpretationen bestimmt. Einmal der zur Zeit der Tat selbst und zum anderen der aus der Distanz unter dem Einfluß des eventuellen Liebesentzug durch die Eltern. Diese Konstellation entspricht noch am ehesten den Annahmen von Hirschi, einer zu geringen Anbindung an die Eltern und einer damit zusammenhängenden Disziplinlosigkeit.

Auch Heitmeyers Bild der Jugendlichen trifft am ehesten auf den Typus Innerer Konflikt zu. Sie sind z.B. durch einen widersprüchlichen Erziehungsstil und äußere Erwartungen verunsichert und bei der damit zusammenhängenden Orientierungssuche kann Gewalt durchaus eine wichtige Bedeutung haben. Dies gilt wiederum für Stefan, der meint, durch wiederholte Prügeleien in Discos seine Identität stabilisieren zu können, um so endlich „zur Ruhe“ zu kommen. Demgegenüber trifft die Argumentation, Verunsicherung drücke sich in Orientierungslosigkeit aus und diese werde durch Gewalt bearbeitet, bei dem Typus Begrenzung in keiner Weise zu. Hier steht die eindeutige Integration in die gewalttätige Welt der Herkunftsfamilie im Vordergrund. Gewalt ist hier ein Ausdruck von Ordnung und Stabilität. Die von außen kommende Verunsicherung z.B. durch die Schule führt zu einer weiteren Stabilisierung der bestehenden Ordnung der Jugendlichen. Auch bei den Jugendlichen des Normalitätstypus wäre es falsch die Verunsicherung zu betonen. Sie leiden unter der Position außerhalb der Gesellschaft, aber hier sind sie eindeutig verortet. Als Outlaws kommen sie nicht in den Genuß der Vorteile der Zugehörigkeit, sie sind aber auch nicht an die dort geltenden Regeln gebunden. Sie müssen entsprechend ihres schweren Schicksals ihre eigenen Regeln entwickeln. Das ist keine Suche nach Handlungssicherheit in der Gewalt, sondern eine Frage der effektivsten Mittel. Konrad versucht durch Raub zu Geld zu kommen und scheut dabei auch nicht vor brutaler Gewalt zurück. Achim versucht seine Mutter von seinem Vater zu befreien und greift dazu auch auf seine prügelnden Kumpels zurück. Bei Oskar als Vertreter des Äußeren Konfliktes kann durchaus von einer Verunsicherung gesprochen werden. Sie liegt in seiner Kindheit und hängt eng mit der Scheidung der Eltern zusammen. Diese Verunsicherung hat er aber nicht durch eine Gewaltorientierung, sondern durch eine starke Gruppenorientierung überwunden. Die Gewalt erscheint nach außen als wesentliches Merkmal der Gruppe, für ihn ist sie sekundär. Die habituelle Übereinstimmung, das Gruppengefühl steht völlig im Vordergrund (vgl. Bohnsack Bohnsack 1995). Eine Form der gemeinsamen Aktion kann auch die Gewalt sein, muß es aber nicht. Harald der Punk (aus der Kontrastgruppe) ist ein weiterer Vertreter dieses Typus. Er weist große strukturelle Ähnlichkeiten zu Oskars Biographie auf. Demgegenüber hat er sich aber in eine Gruppe integriert, in der die gemeinsame Aktion sich nicht in Gewalt ausdrückt. So erklärt nicht die ursprüngliche Verunsicherung, sondern die folgenden Gruppenprozesse die Bedeutung der Gewalt.

Schon dieser sehr kurze Einblick in die Empirie konnte zeigen, daß es nicht den jugendlichen Gewalttäter und somit die Bedeutung von Gewalt gibt. Es ist falsch, diesen Jugendlichen pauschal Hedonismus zu unterstellen und davon auszugehen, ihr bestimmendes Problem sei die Orientierungslosigkeit. Sie leben oft in sehr unterschiedlichen Welten. Gewalt kann dabei als Action, als Spaß erlebt werden, Ausdruck von Gruppenprozessen sein, eine Form des konformen Lebens darstellen, usw. Dies zeigt, daß es wenig Sinn hat, die Handlungen dieser Personen aus der Perspektive der Ordnung zu betrachten und sie ausschließlich an deren Maßstab zu messen. Wie Baumann richtig fordert, wird es Zeit, daß das Wissen um die Mythen der Moderne endlich auch in soziologische Erklärungsansätze einfließt. Barbarei ist keine Naturkonstante, sondern wird ständig neu konstruiert.

 
   
Literatur  
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