Aus- einander- setzung mit Gewalt

Die hier vorgestellte Untersuchung ‘Aus- einander- setzung mit Gewalt’ führt auf der Basis des Orgonomischen Funktionalismus eine neue Perspektive in die Gewaltdebatte ein.

Die gewalttätigen Jugendlichen und der gewaltthematisierende Mainstream werden in den spezifischen Aspekten und in der Interaktion charakterisiert.
Neben den Unterschieden wird aber auch die Identität beider Seiten herausgearbeitet.

Erst aufgrund dieser umfassenden Perspektive können Schritte aus der periodisch auftretenden Gewaltproblematik entwickelt werden.

 

Gewalttätige Ausgegrenzte

Auf der Basis autobiografische narrativer Interviews kann die Perspektive gewaltkrimineller Jugendlicher ausführlich analysiert werden.

Es werden vier 'Typen der Ausgrenzungsbearbeitung' und entsprechende Beispielbiografien präsentiert.

Ausgehend von diesen komplexen Daten wird der Weg zur zugrundeliegeden Funktion 'Ausgegrenzte Bewegung' beschrieben.

Gewaltthematisierender Mainstream

Die den Tätern gegenüberstehende Perspektive wird anhand populärer Erklärungsansätze und als selbstverständlich mittradierte Modelle thematisiert.

Insbesondere wird so der Desintegrationsansatz (Heitmeyer), die Kontrolltheorie (Hirschi), das Gewaltmonopol (Hobbes) und der Zivilisiationsprozess (Elias) analysiert.

Alle Modelle werden in ihren Eigenständigkeiten und Gegensätzen dargestellt. Darüber hinaus werden sie auf eine allen zugrunde ligende Funktion der 'Autotranszendenz' zurückgeführt.

Die Bremsung

 

 

Auf dieser Seite geht es um die Funktion, die sowohl der Perspektive der Gewalttäter als auch die des gewaltthematisierenden Mainstream zugrunde liegt.

In dieser Funktion sind sie identisch.

Diese Funktion wird insbesondere mit Hilfe verschiedener Animationen dargestellt.

Aus-einander-setzung mit Gewalt:

Gewaltthematisierender Mainstream

Aufgabe dieses Abschnittes ist es die Perspektive des Mainstreams in Bezug auf die Jugendgewalt zu charakterisieren.

Ich greife dabei auf zwei populäre Erklärungsmodelle und zwei selbstverständliche Grundlagenmodelle zurück.

Anschließend werden diese Modelle auf die zugrunde liegende Funktion der 'Autotranszendenz' zurückgeführt.

Der Blog zum Thema
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Orientierung stiftende Modelle

So akut und überrumpelnd die Jugendgewalt jedes Mal wieder wahrgenommen wird, so alt und vorhersehbar ist das Thema.

Allein im letzten Jahrhundert gab eine enge Abfolge von Phasen, in denen die gewalttätige Jugend unter verschiedenen Etiketten (z.B. die 'Verwahrlosten‘, die 'Halbstarken‘, die 'Rowdies‘, die 'Verwilderten‘, die 'Wilden Cliquen‘, 'Herumtreiber‘, 'Randalierer‘, 'Krawallmacher) wahrgenommen wurde.

Die Wahrnehmung geht jeweils mit einer intensiven Beschäftigung in den Medien und wissenschaftlichen Publikationen einher.

Immer stärker tritt dabei die Wissenschaft als ordnende Instanz in den Vordergrund. Sie liefert die Modelle mit deren Hilfe die Verunsicherung bearbeitet werden kann und die Stabilität wieder erreicht wird. Dies bedeutet nicht, dass die Gewalt zurückgeht, sondern dass sie nicht mehr als verunsicherndes Problem wahrgenommen und thematisiert wird.

„Die unüberbietbare Frechheit der Jugend unseres Jahrhunderts
ist ein sicheres Zeichen für das Herannahen des Jüngsten Gerichtes“ (Melanchthon um 1560)

In meiner Argumentation sind die Modelle wichtig, die in den 90er Jahren zur Orientierung und somit zur Stabilisierung herangezogen werden.
Dabei gehe ich von zwei Annahmen aus.

  1. Popularität ist ein wichtiges Kennzeichen für Orientierung stiftende Modelle. Sie sind populär wenn sie häufig dargestellt werden, auf sie häufig Bezug genommen wird, sie intensiv diskutiert werden, deren Vertreter häufig als Experten befragt werden und sie als Grundlage von intervenierenden Maßnahmen herangezogen werden.
  2. Neben diesen explizit genutzten Modellen gibt es in der öffentlichen Thematisierung immer Annahmen die implizit mitschwingen, aber nicht ausdrücklich benannt oder sogar begründet werden. Dies gilt z.B. wenn wie selbstverständlich die Gewalt in die Nähe von 'Barbarei' gerückt wird. Die Selbstverständlichkeit mit der auf bestimmte Modelle Bezug genommen wird ist für mich das weitere Merkmal für die Wichtigkeit der Modelle.

Die vier Modelle, die ich nach diesen Merkmalen ausgesucht habe, werden in der Untersuchung ausführlich dargestellt und kritisch diskutiert.
Gerade weil sie populär bzw. selbstverständlich bekannt sind beschränke ich mich hier auf eine grobe Skizze.

Im Aufsatz 'Der Kampf um den Limes der Gesellschaft' gehe ich etwas ausführlicher auf die Modelle ein.
Populäre Erklärungsansätze

Der insbesondere am Thema der rechtsextremistischen Gewalt entwickelte Desintegrationsansatz von Wilhelm Heitmeyer gelang in der ersten Hälfte der 90er Jahre zu einer sehr hohen Popularität sowohl in den Medien als auch im wissenschaftlichen Bereich [1]. Bis heute werden darüber hinaus eine Fülle von Maßnahmen gegen Gewalt auf der Basis dieses Ansatzes entwickelt.
Im kriminologischen und juristischen Bereich, also da wo Gewaltkriminalität erforscht und sanktioniert wird, genießt der kontrolltheoretische Ansatz nach Travis Hirschi ausgesprochene Popularität. Bei Personen, die in diesem Bereich in Forschung und Lehre tätig sind gilt dieser Ansatz als der wichtigste überhaupt. [2]

[1] vgl. Weingart (1998), Peter / Pansegrau, Petra / Winterhager, Matthias (Hg.): Die Bedeutung von Medien für die Reputation von Wissenschaftlern. (5.7.2001)
[2] vgl. Niggli (1992): Kriminologische Theorien und ihre Bedeutung für Kriminologen in Deutschland, der Schweiz und den USA – Ein empirischer Vergleich. S.267

Desintegrationsansatz

Der Desintegrationsansatz hat in den 90er Jahren viele Wandlungen durchlebt. Da die verschiedenen Versionen und Schwerpunkte von dem(n) Autor(ren) aber nie sauber getrennt wurden entstehen viele Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten in der Argumentation. Ich sehe hier davon ab und skizziere den Ansatz so als ob er in sich schlüssig wäre.

In Anlehnung an die Modernisierungsdebatte geht Heitmeyer von einer desintegrierenden Gesellschaft aus. Umfassende Institutionen und Normgebäude verlieren demzufolge immer mehr an Bedeutung und die Individuen sind immer stärker auf sich selbst verwiesen.
Diese Situation teilt die Menschen in zwei Gruppen. Auf der 'Sonnenseite' stehen die Personen, die in ihrer Sozialisation eine 'eigenständige Identität' entwickeln konnten. Sie halten die unterschiedlichen äußeren und inneren Bedürfnisse und Erwartungen aus und integrieren diese Widersprüche in einer Identität. Sie nutzen die Ressourcen der Gesellschaft und sind in der Lage einen individuellen Weg innerhalb derselben zu gehen.
Auf der 'Schattenseite' sind demgegenüber die 'desintegrierten' Personen. Sie können die Widersprüche der Gesellschaft nicht integrieren, sondern werden verunsichert und sind entsprechend orientierungslos.
Diese Personen setzen Gewalt ein und greifen auf „'naturvermittelten Ungleichheiten’ wie Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Alter“[3] zurück.

[3] Heitmeyer (1992): Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. S.67

Kontrolltheorie

Die Kontrolltheorie wurde demgegenüber von dem Amerikaner Travis Hirschi schon Ende der 60er Jahre entwickelt. Er geht von einer traditionalen vom Konsens getragenen Gesellschaft aus.
Entgegen anderer Erklärungsansätze fragt Hirschi nicht nach den kriminogenen Faktoren, sondern nach den Kriminalität verhindernden Aspekten. „Deviance is taken for granted; conformity must be explained.“[4]
Das Individuum wird dabei prinzipiell als ein 'a-soziales’, a-moralisches, „aggressives“ und „impulsives“ Wesen gedacht. [5] Dem steht die von einem Wertekonsens getragene Gesellschaft als ordnende Einheit gegenüber. In der Sozialisation wird das Individuum an diese gesellschaftliche Norm gebunden. Dies geschieht auf vier Ebenen:

Attachment: Primär geht es hier um die emotionale Bindung an die Eltern. Wie wichtig ist es einer Person, den Erwartungen und Wünschen anderer Menschen zu entsprechen bzw. diese nicht zu enttäuschen? Eine schlecht ausgebildete Anbindung lässt viel Freiraum für Abweichung.
Commitment: Hier geht es um die Anbindung anhand des erlangten konformen Status' in der Gesellschaft. Je höher das Erreichte im konventionellen Bereich gewertet wird, desto weniger besteht die Bereitschaft, dies durch abweichendes Verhalten aufs Spiel zu setzen.
Involvement: Hier geht es um Anbindung durch Einbindung. Je stärker eine Person in konformen Strukturen eingebunden ist, desto weniger Freiräume gibt es für deviantes Verhalten. Dementsprechend schreibt Schneider: „Jugendliche, die damit beschäftigt sind, sozialkonforme Dinge zu tun, z.B. Pflichten im Elternhaus zu erfüllen, für die Schule zu lernen oder Sport zu treiben, haben keine Zeit, sich delinquent zu verhalten.“ [6]
Belief: Hier geht es um den Stellenwert, den die Person dem allgemeingültigen Wertesystem eingeräumt.

Je schwächer diese devianzverhindernden Faktoren ausgeprägt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Person entsprechend der ursprünglichen devianten Struktur verhält.

Seit Beginn der 90er Jahre gibt es eine Modifikation dieser Grundgedanken durch Hirschi und Gottfredson.
Ausgangspunkt ist dabei die 'Natur der Tat'. Der Mensch will demzufolge Lust erreichen und Unlust vermeiden. Dabei gehen sie davon aus, dass kurzfristig abgewägte Handlungen mehr Lust bereiten als langfristig abgewägte Handlungen (anstatt Hausaufgaben machen Marihuanarauchen; statt Geld verdienen Geld klauen usw.). [7] Diese kurzfrist orienntierten Handlungen müssen also nicht besonders begründet werden, sondern ergeben sich aus der Natur des Menschen.
Nicht deviantes Verhalten zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass neben den kurzfristigen Konsequenzen auch die langfristigen beachtet werden. Dies gilt insbesondere für die verschiedenen Sanktionssysteme mit denen das Individuum konfrontiert wird. Sie bestimmen die langfristigen negativen Konsequenzen, die durch deviante Personen nicht genügend beachtet werden.

Aufgabe der Eltern ist es, die Kinder nach devianten Verhalten zu beobachten und entsprechend mit Sanktionen zu konfrontieren. So kann bis ungefähr zum 8. Lebensjahr die 'Selbstkontrolle' als Barriere zum devianten Verhalten im Kind aufgebaut werden.
Sowohl die vorhandene, als auch die fehlende Selbstkontrolle wird ab diesen Zeitpunkt als stabil für das ganze Leben angesehen.
„If children who offend by whining and pushing and shoving are the adults who offend by robbing and raping, it must be that whining and pushing and shoving are the theoretical equivalents of robbery and rape.“ [8]

[4] Hirschi (1969): Causes of delinquency. S.10
[5] Hirschi (1969): Causes of delinquency. S.16
[6] Schneider (1988): Kriminologie. S.533
[7] vgl. Gottfredson (1990): A general theory of crime. S.15
[8] Hirschi (1994a): Substantive Positivism and the idea of crime. S.2

Selbstverständliche Modelle

Der moderne Staat: Geboren aus der Angst

Körperliche Gewalt wird heute prinzipiell auf dem Hintergrund eines Normbruchs diskutiert. Ein Gewalttäter bricht eine der grundsätzlichen Regeln dieses Staates: die Beachtung des Gewaltmonopols. Diese Betrachtung von Gewalt ist nicht selbstverständlich und trotzdem wird sie auch in den dargestellten Erklärungsansätzen unhinterfragt einbezogen. Während Heitmeyer das Gewaltmonopol ohne Erklärung aufnimmt, leitet Hirschi seine Perspektive von den 'Klassikern’ ab. Ich greife in meiner Darstellung aus dieser Gruppe auf Thomas Hobbes zurück.
Er hat mit dem 'Leviathan’ ein für unsere Gesellschaft und das Gewaltproblem sehr grundlegendes Buch geschrieben. Ausgangspunkt für Hobbes Argumentation ist der Mensch wie er "natürlich" ist. Von diesem Naturzustand leitet er seine Vorstellung vom Staat ab: „Der große Leviathan (so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch – obgleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht werden soll.“ [9] Den Übergang vom natürlichen zum künstlichen Menschen mit entsprechender Sozialstruktur markiert der Gesellschaftsvertrag.

Als Thomas Hobbes 1588 geboren wurde näherte sich gerade die spanische Armada England. Hobbes verarbeitet dies in der autobiografischen Aussage: Meine Mutter „did bring forth Twins at once, both Me, and Fear.“ Hobbes zitiert nach Reemtsma (1996): Das Implantat der Angst. S.29; ergänzend dazu Münkler (1993): Thomas Hobbes. S.34/35: „Der Philosoph, der die Furcht vor dem Tode zum Grundmotiv seiner Philosophie gemacht hat, hat sein eigenes Leben weitgehend in Übereinstimmung mit diesem von ihm herausgestellten Grundantrieb geführt.“

Der Naturzustand

Für Hobbes sind in den wesentlichen Aspekten die Menschen gleich ausgestattet (Körperkraft und Geistesfähigkeit). Die kleinen vorhandenen Unterschiede sind nicht so groß, als dass sie nicht zum Beispiel durch List ausgeglichen werden könnten. Folglich können sich auch alle Hoffnung auf die Befriedigung der eigenen Wünsche machen. Diese Gleichheit führt aber unweigerlich zum blutigen Konflikt: Wenn aber nun zwei das gleiche wollen wird „einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.“ [10]
Hinzu kommt Hobbes Annahme, dass der Mensch ständig danach trachtet, seinen Machtbereich auszuweiten. "Weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren." [11] Daraus leitet sich letztlich der berühmte Satz ab, dass das Leben der Menschen "ein Krieg aller gegen alle" [12] sei. Der 'Mensch ist ein Wolf für den Menschen’, angetrieben von 'Raubsucht’ und egoistischem Machtstreben, das wiederum in der Selbsterhaltung begründet ist. Die führt zum "tausendfachen Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.“ [13]
Darüber hinaus verhindert diese Situation langfristige wirtschaftliche Planungen und somit eine positive gesellschaftliche Entwicklung.

[9] Hobbes (1996): Leviathan. S.5
[10] Hobbes (1996): S.114
[11] Hobbes (1996): Leviathan. S.90/91
[12] Hobbes (1996): Leviathan. S.115
[13] Hobbes (1996): Leviathan. S115/116

Der Gesellschaftsvertrag

Gerade in der zugespitzten, scheinbar aussichtslosen, Situation des Naturzustandes liegt auch eine Chance. Die Furcht im allgemeinen und die vor dem gewaltsamen Tod insbesondere, das Verlangen nach den zu einem glücklichen Leben notwendigen Dingen und die Hoffnung, sich diese tatsächlich verschaffen zu können, führen dazu, dass mit Hilfe der Vernunft Grundsätze festgelegt werden, die diese Situation überwinden können.[14]
In diesem Vertrag verzichten die Menschen auf "ihr Recht auf alles" [15], ihre Autonomie und ihre Macht und überführen sich selbst somit in den künstlichen Zustand. Dieser Vertrag unterstützt „nicht etwas in der menschlichen Natur angelegtes, sondern ist gegen diese Natur gerichtet.“ [16] Ziel ist es durch diese neue Ordnung, den Krieg aller gegen alle aufzuheben und somit Stabilität und Sicherheit einzuführen.

[14] Vgl. Hobbes (1996): Leviathan. S.118
[15] Hobbes (1996): Leviathan. S.119
[16] Münkler (1993): Thomas Hobbes. S.122. Münkler grenzt hier die Vertragsvorstellung von Hobbes von denen der Antike (z.B. Cicero) ab. „Der Vertrag unterstützt und reguliert danach bloß, was in der menschlichen Natur als Neigung ohnehin angelegt ist.“

Der Gesellschaftszustand

Was heute meist übersehen, aber von Hobbes betont wird ist, dass diese neue Ordnung die Furcht vor Gewalt nicht aufhebt, sondern auf sie weiterhin angewiesen ist: "Gesetze und Verträge können an und für sich den Zustand des Krieges aller gegen alle nicht aufheben, denn sie bestehen in Worten, und bloße Worte können keine Furcht erregen, daher fördern sie die Sicherheit der Menschen allein und ohne Hilfe der Waffen nicht.“ [17] Die Angst muss weiterhin fest installiert bleiben. Sie muss, wie Münkler es nennt, „künstlich perpetuiert“[18] werden und wird als „Implantat der Angst“ vor dem „Rückfall in die Barbarei“ zentrales Merkmal der modernen Staatstheorie.[19]

Dementsprechend kommt es zur Aufspaltung in Souverän und Untertann. Im Souverän laufen alle Rechte zusammen, insbesondere das Recht auf Gewalt. Seine Aufgabe besteht darin, den Staat aufrechtzuerhalten. Hobbes ging es nicht um die Ausschaltung der Gewalt und der Todesfurcht, sondern um die Ausschaltung der Todesfurcht im Krieg aller gegen alle. Die Ungewissheit dieser Angst wollte er in eine Gewissheit überführen. Sowohl die Angst als auch die Gewalt sind weiterhin zwingend notwendig: der Staat ist nur so lange stabil wie diese Furcht fortbesteht. Lässt die Furcht nach, würden die Bürger ihre Rechte wieder übernehmen und der Naturzustand wäre wieder hergestellt. Die Furcht vor dem Souverän muss demzufolge glaubwürdig sein, sein Gewaltmonopol ist kein Symbol, sondern muss sich immer wieder konkret bestätigen. [20]

Das bestimmende Merkmal des Naturzustandes ist demzufolge nicht die Angst und die Gewalt, sondern die ungeregelte Angst und Gewalt. Das bestimmende Gegensatzpaar zwischen Naturzustand und modernen Staat ist demzufolge Chaos und Ordnung.

Bauman folgert: „Wir können sagen, dass die Existenz modern ist, sofern sie sich in Ordnung und Chaos spaltet. Die Existenz ist modern, insoweit sie die Alternative von Ordnung und Chaos enthält.“ „Wir können sagen, dass die Existenz modern ist, sofern sie von dem Gefühl 'ohne uns die Sintflut’ durchdrungen ist. Die Existenz ist modern, insofern sie von dem Drang geleitet wird, zu entwerfen, was andernfalls nicht da wäre: von dem Drang, sich selbst zu entwerfen.“ [21]

Gewalt

Gewalt ist in einem modernen Staat (zumindest in der konkreten Androhung) allgegenwärtig. Wenn der Souverän in seiner Aufgabe versagt kann es darüber hinaus zum erneuten Durchbruch des Naturzustandes kommen. Das heißt: Die Untertanen knüpfen wieder an ihr Naturrecht an und setzen Gewalt ein.

[17] Hobbes (1996): Leviathan. S.151
[18] Münkler (1993): Thomas Hobbes. S.123
[19] Reemtsma (1996): Das Implantat der Angst. S.32
[20] Narr spricht über den 'Staat’ von einer 'konzentrierten Gewaltorganisation’ und warnt davor den Sinn des Gewaltmonopols in Frage zu stellen: „Wer hier mit der Säure des Zweifels anhebt, mag rasch die Substanz angreifen. Also ist es angezeigt, eine Art übertragener Sicherheitsbannmeile rund um die Sicherheitsapparaturen des Staates selbst zu fixieren, eine Tabuzone strikt einzuhalten. So wird der quasi religiöse Charakter verständlich, den die 'Frage nach dem Gewaltmonopol des Staates’ in der Bundesrepublik angenommen hat.“ (58/59) Narr (1990): Staatsgewalt und friedsame Gesellschaft.
[21] Bauman (1996a): Moderne und Ambivalenz. S.19/20

Die Zivilisation: Stabilisierung der Angst

Hobbes spielt mit offenen Karten. Nur da wo eine ständige Furcht vor der Gewalt des Souveräns besteht kann der chaotische Naturzustand verhindert werden. Auch wenn heute noch das Gewaltmonopol eine zentrale Rolle spielt, so ist klar, dass seit Hobbes etwas sehr wichtiges hinzugekommen ist: die Zivilisierung des Menschen.

Norbert Elias geht davon aus, dass ab einen bestimmten Zeitpunkt die Beziehungen der Menschen immer komplexer werden. Dadurch ist der Einzelne gezwungen, sein Verhalten immer mehr auf Differenziertheit, Gleichmäßigkeit und Stabilität abzustimmen. Er muss „den eigenen Leidenschaftsausbruch, die Wallung, die ihn zum körperlichen Angriff [...] treibt, zurückzudrängen.“ Vor allem aufgrund der sich entwickelnden stabilen gesellschaftlichen Institutionen „stellt sich jene gesellschaftliche Prägeapparatur her, die den Einzelnen von klein auf an ein beständiges und genau geregeltes An-sich-Halten gewöhnt." So bildet sich die "automatisch arbeitende Selbstkontrollapparatur.“[22]

Selbstzwang

Während Hobbes noch mit dem äußeren Zwang argumentiert, wird dieser durch die Installation der Selbstkontrolle weitgehend überflüssig. Aus dem Fremdzwang wurde ein Selbstzwang.
„Der Kontroll- und Überwachungsapparatur in der Gesellschaft entspricht die Kontrollapparatur, die sich im Seelenhaushalt des Individuums herausbildet.“[23]

Auch Elias spricht von einer Pazifisierung, aber auch er meint nicht eine Aufhebung von Gewalt und Angst, sondern nur eine Verlagerung: "der Kriegsschauplatz wird zugleich in gewissem Sinne nach innen verlegt.“ Da die Leidenschaften zwischen den Menschen nicht mehr einfach ausgelebt werden können „kämpfen [sie] nun oft genug nicht weniger heftig in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst.“ [24]

So wie sich Hobbes durch den geordneten Angstzustand Sicherheit verspricht, so geht Elias davon aus, dass durch die Internalisierung der Kontrollinstanz Stabilität im Handeln entsteht.

[22] Elias (1976): Über den Prozess der Zivilisation II. S.320/321
[23] Elias (1976): Über den Prozess der Zivilisation II. S.327/328
[24] Elias (1976): Über den Prozess der Zivilisation II. S.330/331

Individuelle Zivilisierung

Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Modell von Hobbes und Elias. Hobbes geht davon aus, dass mit dem Gesellschaftsvertrag der künstliche Zustand erreicht ist und nur noch aufrechterhalten werden muss. Die Zivilisierung muss demgegenüber bei jedem Kind von neuem beginnen. Die zivilisierte Gesellschaft wird mit jedem neu geborenen Kind wieder mit dem unzivilisierten Menschen konfrontiert.

Daraus folgt das Verständnis von Sozialisation: „Der Einzelne wird bereits von der frühesten Jugend an auf jene beständige Zurückhaltung und Langsicht abgestimmt, die er für die Erwachsenenfunktionen braucht; diese Zurückhaltung, diese Regelung seines Verhaltens und seines Triebhaushaltes wird ihm von klein auf so zur Gewohnheit gemacht, dass sich in ihm, gleichsam als eine Relaisstation der gesellschaftlichen Standarde, eine automatische Selbstüberwachung der Triebe im Sinne der jeweiligen gesellschaftlichen Schemata und Modelle [...] herausbildet.“[25]
Bei einer nicht gelungenen Sozialisation „bleibt die bewusste und unbewusste Selbstkontrolle immer noch an einzelnen Stellen diffus und offen für Durchlässe von gesellschaftlich unzweckmäßig gestalteten Triebenergien.“ [26]

[25] Elias (1976): Über den Prozess der Zivilisation II. S.329
[26] Elias (1976): Über den Prozess der Zivilisation II. S.334

Gewalt

Bei Hobbes resultiert die Gewalt der Untertanen aus dem Versagen des äußeren Zwanges. Nach Elias wird dieser Zwang im Laufe der Zivilisation verinnerlicht. Der die Sicherheit konstituierende Widerspruch zwischen Souverän und Untertan setzt sich demzufolge in jedem Individuum fort. Analog zu Hobbes kommt es zu gewalttätigem Verhalten aufgrund des Versagens des Selbstzwanges.
Das dünne Eis der Zivilisation ist hier nicht tragfähig. Da bei dieser Person die (staatlichen) Prägeanstalten in Bezug auf die Internalisierung offensichtlich versagt haben, treten sie jetzt der Person wieder mit äußerem Zwang entgegen.

 
   
Die Autotranszendenz

Im Leviathan geht es um nichts Geringeres als darum den „natürlichen Menschen“ in einen „künstlichen Menschen“ umzuformen, um ihn so „glücklich“ zu machen. Die Menschen im Naturzustand sind durch ihre prinzipielle Gleichheit an Ressourcen aber auch an „Hoffnungen“ der „Befriedigung der Wünsche“ geprägt. Dies führe zu einer großen insbesondere gewalttätigen Dynamik unter den Menschen.
Diese Kräfte werden in der neuen Ordnung nicht bekämpft, sondern nur neu angeordnet. Im Kern steht dabei die Aufspaltung der Gleichheit in einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen den auf Gewalt verzichtenden Untertanen und dem Monopol des Souveräns. Die Untertanen behalten ihre zum Ausdruck strebenden Interessen und Leidenschaften, wissen jetzt aber immer um die gewaltige Gegenmacht des Staatvertreters.
Sicherheit entsteht im Gleichgewicht der an dieser Grenzarbeit beteiligten Parteien. Nur wenn der Souverän seine unterdrückende Potenz glaubhaft vertreten kann sind die Untertanen zum Verzicht auf die Bedürfnisbefriedigung bereit und so entsteht der Raum, indem die Wirtschaft langfristig planen kann.

Auf Hobbes aufbauend beschreibt Elias den Weg vom Fremdzwang zum Selbstzwang. Die Affektnähe, also die Einheit von Antrieb und Ordnung fallen auseinander. Es etabliert sich eine Instanz, die explizit gegen die eigenen Affekte gerichtet ist. Nicht die Bedürfnisse und Möglichkeiten eines Menschen kennzeichnen ein Individuum, sondern der Widerspruch zwischen der ordnenden Instanz und eben diesen Bedürfnissen.
Jegliche zivilisierte Handlung wird vom Affekt vorangetrieben und von der ordnenden Instanz ausgebremst.

Kern beider Grundlagenmodelle ist die bemerkenswerte Vorstellung, menschliches Leben könnte durch den Menschen auf eine höhere Ebene transzendiert werden, indem er gegen die eigene Natur bzw. den eigenen Ausdruck eine regulierende Gegenkraft installiert.

In dieser Vorstellung von Autotranszendenz gibt es zwei Gegensatzanordnungen: zum einen die zwischen dem transzendierten und dem nicht transzendierten Bereich, zum anderen die zwischen dem Ausdruck und der Regulierung desselben.
Der Schritt in den transzendierten Bereich wird als Fortschritt interpretiert und entsprechend positiv ist die Selbstverortung hier.

Im ursprünglichen Bereich haben alle Menschen alle Rechte und können ihre Affekte in Handlungen umsetzen. Leidenschaften, Affekte, Rechte und Handlungen bauen hier aufeinander auf und formen einen einheitlichen Ausdruck.
Der Wechsel hin zum transzendierten Bereich kommt einer Überwindung dieses Zustandes gleich. Der einheitliche Ausdruck wird aufgespalten und richtet sich zum Teil gegen sich selbst.
In der Aufspaltung und Gegensatzanordnung überwindet sich der Mensch selbst und formt so das eigentliche Menschsein. Er gibt sich eine menschliche Ordnung und erhebt sich über seine animalische Natur.[27]

Es stehen sich zwei Ordnungsprinzipien gegenüber: der durch den Menschen 'geordnete' Zustand und die sich aus den Dingen selbst ergebende Ordnung. Diese nicht durch den Menschen geordnete Ordnung erscheint häufig gar nicht als Ordnung, sondern eben als Chaos.

Mit der Überwindung erhebt sich der Mensch aus der natürlichen Unordnung in den Zustand der menschlichen Ordnung: es ist ein Schritt der Menschwerdung und ein Schritt vom niederen zum höheren: es ist ein Fortschritt.
Der Schritt in die menschliche Ordnung, aber auch das Aufrechterhalten dieser Ordnung ist mit einem hohen Aufwand verbunden. Sie markiert den schwierigen, aber lohnenden Weg des Menschseins.

Nur indem sich der Mensch selbst überwindet, kann er transzendieren. Aus eigener Kraft überwindet sich der affektnahe 'Wolf’, zähmt sich selber, schafft sich eine individuelle und soziale Struktur, die es so in der Natur nicht gibt und wird zum eigentlichen Menschen. Nur wenn ständig sehr viel Energie in diesen neuen Zustand investiert wird, kann verhindert werden, dass der Mensch wieder zur Bestie, zum Wolf, zum naturnahen Barbaren wird.

Diese Energie fließt direkt in den sich selbst geschaffenen Konflikt zwischen Ausdruck und Hemmung des Ausdrucks. In dieser Grenzarbeit wird die Energie fixiert und der Ausdruck verändert so seinen Charakter in einen menschlich geordneten Ausdruck.
Die Grenzarbeit entscheidet darüber, ob das menschliche Antlitz Gültigkeit behält oder ob der unter dieser dünnen Schicht lauernde animalische Kern wieder zum Vorschein kommt.
Jede Instabilität des Konfliktes wird als Angst erlebt. Die Angst bezieht sich auf den Zusammenbruch des mühsam erreichten und bisher aufrechterhaltenen Zustandes bzw. auf den Rückfall in den als überwunden geglaubten Zustand. Die Angst kann nur durch die Stabilisierung des Konfliktes bearbeitet werden. Das heißt: noch mehr Energie muss in die Reglementierung des Ausdrucks investiert werden.

 

Autotranszendenz
Der Autotranszendenz liegt die Vorstellung zugrunde, es gäbe einen Zustand, in dem Ordnung und Ausdruck in eine Richtung weisen und mit ungezügelter Kraft hervortreten (A). Diesen Zustand gilt es zu überwinden, indem die Einheit aufgespalten wird und sich die Ordnung (B) gegen den Ausdruck (C) stellt. Ein großer Teil der Energie fließt in diese konflikthafte Grenzarbeit und der neu geschaffene Ausdruck ist von Stabilität(D) geprägt.

Bei Hobbes variiert dies in der Vorstellung, es habe eine Gesellschaft gegeben, in der die Menschen sowohl die zum Ausdruck strebenden Leidenschaften, als auch die ihnen die Befriedigung ermöglichenden Ressourcen (z.B. Gewalt) zu Eigen wären (A). Diese Menschen überwinden diesen Zustand, indem sie auf sozialer Ebene die Ressourcen abspalten und in Form des omnipotenten Souveräns (B) gegen die leidenschaftlichen Untertanen (C) richten. Indem sich die Kräfte gegenseitig blockieren entsteht demzufolge Sicherheit (D), die z.B. langfristige wirtschaftliche Planung ermöglicht.

Auch Elias’ Zivilisationsbegriff lässt sich auf die Autotranszendenz zurückführen. In dem angenommenen affektnahen Zustand (A) können die Antriebe ungehindert zum Ausdruck kommen. In der Sozialisation wird die Regulierung aber in dem Sinne umstrukturiert, dass sie sich als Selbstbeherrschung (B) gegen die Affekte (C) stellt. Sichtbar wird dies in der für die Zivilisation typischen Handlungsstabilität (D).

Auch die beiden populären Erklärungsansätze der Gewalt können hier eingeordnet werden.
Hirschi wurde in der Kriminologie insbesondere aufgrund seiner grundsätzlichen Fragestellung bekannt: „Deviance is taken for granted; conformity must be explained.“ Der Mensch ist demzufolge ein „a-soziales“, „aggressives“ und „impulsives“ Wesen, das auf eine kurzfristige Bedürfnisbefriedigung abzielt (A). Erst indem sich in der Sozialisation eine Instanz der „Selbstkontrolle“ (B) gegen die Impulse (C) herausbildet entsteht ein sozial berechenbarer Mensch (D). In diesem Sinne kann Friday sagen: „Diese Konformität ist keinesfalls als langweilig und eintönig zu erleben: so wie das Schaf an der Leine schlafen, essen, brüllen, die Sonne genießen, ja sogar versuchen kann, mit gekreuzten Vorderbeinen zu laufen, so müssen die jungen Leute lernen, dass das Leben gebunden an Konformität vielseitig, erfreulich, belohnend und interessant, ausfüllend sein kann.“[28]

Etwas schwieriger ist es den Desintegrationsansatz auf die Autotranszendenz zurückzuführen. Bei Hobbes wendet sich der Souverän gegen den Untertan, bei Elias wurde der Affekt reguliert und bei Hirschi die direkte Bedürfnisbefriedigung.
Heitmeyer vermeidet in seiner emanzipatorischen Attitüde demgegenüber auf Begriffe die einen zu beherrschenden Gegenpart nahe legen. Bei genauerer Betrachtung präsentiert er aber ein auf die Spitze getriebenes Ideal der Regulierung. Im Gegensatz zu den anderen Modellen geht es hier nicht darum einen bestimmten Ausdruck zu regulieren, sondern jeder beliebige Ausdruck soll in einen geordneten Ausdruck überführt werden. Heitmeyer stellt an die regulierende Instanz der eigenständigen Identität (B) die höchsten Anforderungen. Alle Ansprüche, ob sie von außen oder von innen (C) kommen, müssen mit Hilfe der „Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz“ so in einer Identität aufgefangen werden, dass sie sich einer desintegrierenden Gesellschaft angemessen ausdrückt (D). Dies gelingt nur aufgrund der „Distanzierungsfähigkeit“ (Aufspaltung) auch gegenüber den eigenen Ansprüchen. Demgegenüber ist Eindeutigkeit (A) das Kennzeichen einer nicht gelungenen Sozialisation.

 

[27] Die Grenze zwischen Tier und Mensch gilt als „Kernbestand westlicher Anthropologie“. Diese Grenze ist von vielfältiger Bedeutung für die Gewaltproblematik. Zum einen werden eben die Täter häufig jenseits dieser Grenze verortet. Wichtig ist diese Grenze aber auch, wenn Tiere diese Grenze missachten und Menschen töten (vgl. Berichterstattung über Kampfhunde). Um den Skandal der Gewalt zu betonen, werden aber nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer in die Nähe der Tiere gebracht: jemand wird 'wie ein Tier geschlachtet’. Aber auch umgekehrt wird z.B. in dem Begriff 'Hühner-KZ’ die Grenze bewusst überschritten, um Gewalt gegen Tiere zu skandalisieren. Vgl. Fischer (2001): Mensch-Tier-Vergleiche und die Skandalisierung von Gewalt.
[28] Friday (1998): Social Control-Theory. S.83

Gewalt – Kennzeichen des unüberwundenen naturnahen Bereichs

Auffällig ist bei beiden Erklärungsansätzen der Gewalt, dass sie nur sehr wenig über Gewalt berichten. Weder erforschen sie die Sinnstruktur gewalttätiger Handlungen noch bieten sie eine Phänomenologie der Gewalt.
Sie begnügen sich damit, Gewalttäter als defizitäre abweichende Persönlichkeitsstrukturen darzustellen. [29] Sie unterscheiden sich in der Darstellung der Ordnung von der die Täter abweichen. Während Hirschi mit seinen Forderungen nach „effizienter Bestrafung“ und „Disziplinierung“ und „Selbstkontrolle“ eher konservative Ordnungsvorstellungen hat spricht Heitmeyer eher liberale Geister an.

Einig sind sich aber beide Autoren, dass das Defizit der Täter darin besteht, dass sie dem Zustand vor der Selbstüberwindung verhaftet bleiben. Die Täter erscheinen als Negation der Ordnung, mit der sich die Protagonisten der Modelle identifizieren:
sie haben keine Selbstkontrolle bzw. keine eigenständige Identität entwickelt. Aus der Negation der eigenen Ordnung ergeben sich so Eigenschaften der Täter, die im einzelnen nicht explizit benannt und auch nicht belegt, aber trotzdem transportiert werden.
Der als komplex und widersprüchlich erlebten eigenen Ordnung wird die ursprüngliche und einfache Ordnung der Täter gegenübergestellt. Ursprünglich ist hier konkret im historischen Sinn zu verstehen. Sie greifen auf Orientierungen unserer Vorfahren zurück.
Die eigenen Regulationsinstanzen ('Innerer Halt’, 'Selbstkontrolle’, 'Ich’, 'eigenständige Identität’ usw.) werden auf geistiger und psychischer Ebene verortet. Die Täter gelten demzufolge als körperorientiert.
Der geordnete Bereich ist durch Vorhersehbarkeit und Stabilität geprägt. Selbst der Hedonismus ordnet sich den Regeln der konsumfähigen Freizeitgestaltung unter. Gewalttäter sind demzufolge affektbetont und kurzfristig orientiert.

Das Defizitäre der Menschen jenseits der Selbstüberwindung wird weniger durch eine Fehlentwicklung in eine falsche Richtung als vielmehr durch das Fehlen einer notwendigen Entwicklung bestimmt. Hier sind quasi die Menschen noch im Rohzustand oder zumindest in der Nähe davon.
Der Wolf im Menschen, der Wilde, der Barbar kann sich hier noch teilweise ungezähmt präsentieren. Die dünne Decke der Zivilisation konnte nicht tragfähig ausgebaut werden und der Naturzustand bricht folglich wieder durch. Die betroffenen Personen konnten sich nicht weit genug von ihrer Natur entfernen.
So verwundert es nicht, dass Heitmeyer den Jugendlichen eine Orientierung an 'Naturkategorien’ unterstellt und von „'naturvermittelten Ungleichheiten’ wie Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Alter“ spricht. Wieder scheint die Zuordnung für sich zu sprechen.

Das Auftreten körperlicher Gewalt wird als Zeichen der Destabilisierung des den transzendierten Zustand konstituierenden Widerspruchs interpretiert.
Auf sozialer Ebene akzeptieren offensichtlich einige Personen und Gruppen das Gewaltmonopol nicht. Die Sicherheitsräume werden instabil. Die für den Naturzustand typischen Ängste, von einer beliebigen Person körperlich geschädigt zu werden, nehmen zu.
Auf individueller Ebene fehlt den Tätern ein starker Gegenpol zu den zum Ausdruck strebenden Impulsen. Die Handlungen sind nicht auf einer mittleren Linie stabilisiert, sondern bewegen sich eher im Bereich der Extreme.

Die Bearbeitung des so definierten Problems folgt auf beiden Ebenen derselben Logik: Im Konflikt zwischen Ausdruck und Ordnung muss die Ordnung gestärkt werden. Auf der sozialen Ebene müssen die Politiker stärker Position gegen die Gewalttäter beziehen, die Gerichte müssen schneller, eindeutiger und evtl. auch härter urteilen und die Polizei soll präsenter sein.
Nicht die Härte ist dabei entscheidend, sondern die Effizienz. Dies kann auch heißen, dass es sinnvoll ist, die Familie zu stärken, den Lehrern mehr Einflussmöglichkeiten zu geben, Resozialisierungsmaßnahmen zu fördern und soziale Einrichtungen zu schaffen.

Da es im Wesentlichen genügt, die Täter jenseits der Grenze zu verorten, bleiben sie weitgehend im Schatten. Es ist kein Zufall, dass Heitmeyer zwischen der Sonnen- und der Schattenseite der Gesellschaft unterscheidet. Es geht nicht um eine Phänomenologie dieses Bereiches, sondern um die Überwindung dieser eigenen Schattenseiten. In diesem Sinne müssen sie fremd bleiben.
Im Gewalttäter begegnet uns unsere eigene, aber überwundene Vergangenheit. Der dumpfe, rohe und brutale Skin zeigt ganz deutlich, was mit uns passiert, wenn wir aufhören, sehr viel Energie in die eigene Zähmung zu stecken. Außerdem zeigt dieses Gegenbild, dass wir tatsächlich anders sind als diese naturnahen Menschen. Wir haben uns selbst überwunden und diese Feststellung schmeichelt. Es wird deutlich, was für eine Leistung wir vollbringen, eine Leistung, zu der offensichtlich viele andere nicht in der Lage sind.

[29] Wie in diesen Erklärungsansätzen wird auch in der medialen Beschäftigung ein seltsam wirkender Widerspruch deutlich: Medien sind ganz offensichtlich an provozierenden und Aufmerksamkeit erheischenden Präsentationen interessiert. Trotzdem gab es in den 90er Jahren (und auch heute noch) keine kontroverse Diskussion über Gewalt!
Kann sich jemand an eine Talkshow oder Diskussionsrunde erinnern, in der z.B. ein gewalttätiger Skin seine Handlungen offensiv vertreten konnte? Es wird gestritten über die Position des Mainstreams zu Gewalttätern, die Gewalt selbst bleibt Tabu.