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Kritik am Hexenaufsatz

 

Text zur Hexenverfolgung (O. Lattorf)

Auf der Seite des Deutschen Orgon Service wurde vor einigen Jahren ein Text von Ottmar Lattorf zum Thema Hexenverfolgung veröffentlicht. Dieser Text steht nicht mehr im Netz. Es gibt aber die Möglichkeit, O. Lattorfs Argumentation in der Zeitschrift Emotion (Hrsg.: V. K. Diederichs, Berlin, 1997, Nr. 12/13) nachzulesen. Außerdem gibt es noch einen ähnlichen Aufsatz auf der Seite von Bernd Senf als PDF Datei.

Kritik an dem Text (I. Diedrich)

Vieles hat mich an dem Ursprungstext provoziert. So z.B. die Idealisierung der Zeit vor der Hexenverfolgung, die kausalen Verknüpfungen in der Geschichte und der als Bruch (Hexenverfolgung) konstruierte Übergang zur heutigen Gesellschaft. Weiter unten findet sich die ausführliche Kritik. Am Ende gehe ich ebenfalls kritisch auf ähnliche Aspekte bei W. Reich und bei Bernd Senf ein.

Erwiderung (O. Lattorf)

Nun liegt eine Erwiderung meiner Kritik durch Ottmar Lattorf vor. Diesen Text möchte ich als PDF Datei unkommentiert zur Verfügung stellen.

Diskussion (Sie/Du)

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Der Blog zum Thema
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Kritik an den Aufsatz zur Hexenverfolgung von Ottmar Lattorf

Mit großem Interesse habe ich den Artikel: "Die Hexenverfolgung oder: Zur Durchsetzung sexualfeindlicher Moral in Europa" von Ottmar Lattorf gelesen. Es hat Spaß gemacht, die Fülle von anschaulichen Beispielen zu lesen und seiner Argumentation zu folgen. Der Artikel hat in seinen Thesen aber auch etwas Herausforderndes gehabt. Da ich mich vor einiger Zeit ebenfalls mit der Thematik auseinandergesetzt habe, kam mir einiges bekannt vor, anderes war mir wiederum neu und an einigen Punkten habe ich mich richtig geärgert. Darum habe ich mich entschlossen diese kurze Kritik zu schreiben. Mir geht es dabei weniger darum, diesen konkreten Artikel auseinander zu nehmen, als vielmehr darum, eine bestimmte Art der Argumentation, die auch hier zur Geltung kommt, in Frage zu stellen. Einschränkend muss ich vorweg sagen, dass ich weder ein ausgesprochener Kenner der Forschungen von James DeMeo bin, noch Reichs Aussagen zum Thema DOR voll verstanden habe. Demzufolge werde ich zu diesen Punkten, wohl wissend, dass sie wichtig sind, keine Aussagen machen.

Meine Kritik betrifft vor allem zwei Bereiche:

1. Umgang mit den Quellen.

Leider wurde der Text ohne Quellenangaben ins Netz gestellt. Soweit ich es übersehe bezieht sich Ottmar Lattorf in den wesentlichen Teilen vor allem auf drei Autoren: Gunnar Heinsohn/ Otto Steiger: Die Vernichtung der weisen Frauen, Norbert Elias: über den Prozess der Zivilisation und Karl Heinz Deschner: Das Kreuz mit der Kirche. Alle Beispiele stammen demzufolge aus Sekundärliteratur und zwar aus sehr umstrittener Sekundärliteratur, was v.a. für Heinsohn/Steiger und Deschner gilt; Elias konnte sich inzwischen weitgehend durchsetzen. Alle drei Autoren haben eine dezidierte These, die sie mit ihrer Interpretation der herangezogenen Quellen belegen wollen. Alle Beispiele, die Ottmar Lattorf anführt, sind stark interpretationsbedürftig und werden von den jeweiligen Autoren entsprechend dargeboten. Diese Beispiele zu zitieren, ohne gleichzeitig den Kontext darzustellen, in dem die Autoren dies Beispiel angeführt haben, heißt, sie aus dem Zusammenhang zu reißen. Zur Verdeutlichung: Elias hat eine Fülle von Beispielen geliefert, die so aussehen, als würde er eine Gesellschaft darstellen, die von freiem Umgang mit Sexualität geprägt ist. Seine Intention war aber vielmehr, die Veränderung der Affektkontrolle über mehrere Jahrhunderte darzustellen.

Der Umgang mit Sexualität wird also nur exemplarisch für den Umgang mit Affekten beschrieben. Im gleichen Zusammenhang stellt Elias auch den Umgang mit Aggression dar. Diese Seite verschweigt Ottmar Lattorf. Ihm geht es um die Darstellung sexuell befreiter Menschen und er benutzt dazu Beispiele, die eigentlich eine niedrige Affektkontrolle belegen sollen. Darüber hinaus ist selbst die Interpretation der Quellen durch Elias als geringe Affektkontrolle umstritten. So schreibt Hans Peter Duerr in seine Antwort auf Elias: "Dass Männer und Frauen in den öffentlichen Badstuben des Mittelalters, die im 12. Jahrhundert aufkamen, durchweg gemeinsam gebadet hatten, wird zwar stets behauptet, ist aber noch nie belegt worden. Schaut man sich die Quellen an, so sieht man bald, das im Gegenteil weitaus die meisten dieser Bäder eine Geschlechtertrennung hatten" (Hans Peter Duerr: Nacktheit und Scham, S.38). Das interessante dabei ist, dass er sich in dieser Aussage genau auf die Quellen beruft, die sowohl Ottmar Lattorf als auch Elias heranziehen, er interpretiert sie nur anders und bringt dafür zahlreiche Argumente. Egal ob man nun eher Elias oder Duerr zugeneigt ist, so muss doch gesagt werden, dass die jeweilige Interpretation nicht so eindeutig richtig sein muss, wie sie auf den ersten Blick scheint. Meine Kritik am Umgang mit den Quellen lässt sich durch den Rahmen eines Aufsatzes relativieren. Auf wenigen Seiten ist es kaum möglich, alles differenziert darzustellen. Das Gesagte kann so auch eher als Ergänzung angesehen werden.

2. Das vertretene Geschichtsbild.

Diese Relativierung gilt allerdings nicht für diesen zweiten Kritikpunkt. Dafür geht Ottmar Lattorf viel zu offensiv mit seinem Geschichtsbild um. Im Zentrum meiner Kritik steht das dichotome Geschichtsbild, das hier in der Auseinandersetzung mit dem Thema der Hexenverfolgung deutlich wird. Der Autor konstruiert anhand der Kategorie das Sexualleben ein eindeutiges "Vorher" und "Nachher" in die Geschichte, dazwischen liegt ein klar zu benennender Umbruch in dieser Kategorie.

Diese Vorstellung ist nicht neu. So unterschied Hobbes zwischen dem Naturzustand des Menschen und dem Leben in der Gesellschaft. Im Naturzustand galten ihm die Menschen als reißende Wölfe, die nicht einmal vor der eigenen Art halt machten. Aufgrund des einmaligen Gesellschaftsvertrages gaben alle ihr Recht auf Gewaltausübung an das Gewaltmonopol des Souverän ab. So konnten sie die Barbarei hinter sich lassen und der moderne Staat, bzw. die zivilisierte Gesellschaft wurde geboren. Noch bekannter ist die Paradiesgeschichte: Adam und Eva leben im Garten Eden, sind nackt, schämen sich aber nicht - wir müssen im Schweiße unseres Angesichtes leben. Dazwischen liegt die Vertreibung aufgrund des Sündenfalls. Beide Schilderungen sollen mit unterschiedlicher Wertung grundlegende Fragen unseres (zivilisierten) Menschseins verdeutlichen. Aber beide beschreiben keine historischen Gegebenheiten, stellen auch nicht den Anspruch. Beide wollen Prozesse aufzeigen, die nicht anhand bestimmter Geschehnisse auf einer linearen Zeitskala markiert werden können. Wie falsch es ist, z.B. Mythen aus dem damaligen Zusammenhang zu reißen und historisch umzudeuten, hat gerade die katholische Kirche in Bezug auf die Paradiesgeschichte gezeigt. Sie hielt lange am eindeutigen Beginn der Menschheit bei Adam und Eva fest, obwohl die Evolutionstheorie längst gezeigt hatte, dass diese sich langsam herausgebildet hatte. Man tut den Mythen keinen Gefallen, sie in unser Wissenschaftssystem hineinzupressen. Sie wollen als Mythen verstanden werden und nur so können sie eine große Aussagekraft entwickeln.

Ottmar Lattorf vertritt in seinem Artikel nun genau so ein dichotomes Geschichtsbild und er spricht nicht von Mythen und meint es nicht als Modell, um komplizierte Prozesse zu verdeutlichen, sondern durchaus historisch. Er konstruiert auf der linearen Zeitskala ein eindeutiges Vorher und Nachher. Scheinbar alle wichtigen Probleme, die wir heute haben, scheinen in dem Ereignis zwischen dem Vorher und dem Nachher begründet zu sein. Dieses Ereignis ist für ihn die Hexenverfolgung und, noch weiter auf den Punkt gebracht, der Hexenhammer. Die Hexenverfolgung als wesentlicher Wendepunkt der Geschichte der Menschheit v.a. in Europa ist seine Hauptthese.

Es sollte klar sein, dass er sich damit in der Geschichtsauffassung weit von Elias entfernt. Elias wollte einen Prozess, eine Entwicklung aufzeigen. Es geht bei ihm nicht um eine Gegenüberstellung des unzivilisierten Mittelalters versus zivilisierte Neuzeit, es gibt bei ihm keinen Nullpunkt der Geschichte. Es gibt aber einen vielschichtigen, in sich widersprüchlichen Prozess, den er in seiner Hauptrichtung darzustellen versucht. (vgl. Volker Eichener: Norbert Elias, Hamburg 1991 S.90ff). Heinsohn und Steiger haben letztlich die Gegenwart im Auge. Sie wollen die momentane Kindervernachlässigung und raschen Geburtenrückgang in den gegenwärtigen Industriegesellschaften erklären und formulieren dafür eine allgemeingültige ökonomisch orientierte Theorie der Bevölkerungsentwicklung. "Unsere These von der Herrschaft des wirtschaftlichen Kalküls bei der Fortpflanzung besagt, dass die Aufzucht von Kindern nicht einem natürlichen Drang folgt, sondern immer eine soziale Entscheidung erfordert, gleichgültig, ob sie dem Interesse des Einzelnen entspricht oder ob sie ihm durch das jeweils in der Gesellschaft dominierende Interesse aufgeherrscht wird. Damit bestreiten wir das Auftreten eines Wunsches nach Kindern nicht, wohl aber, dass er naturgegeben sei." (Heinsohn / Steiger: Menschenproduktion S.11 u. S.12) Diesen Zusammenhang zwischen ökonomischem Interesse und Kinderproduktion versuchen sie auch (nicht nur) am guten Beispiel der Hexenverfolgung aufzuzeigen. Ihnen geht es nicht darum, einen Nullpunkt in die Geschichte zu konstruieren, sondern ihre allgemeine Bevölkerungslehre zu belegen.

Wer, wie Ottmar Lattorf, dichotom argumentiert, ist natürlich zu starken Vereinfachungen gezwungen. So wird oft ein Schreckensbild vom Tiersein gezeichnet, von dem sich der Mensch dank seiner Zivilisation abgrenzen kann. Reich kritisiert diese Vorstellung in Massenpsychologie des Faschismus zu Recht. Er kann aufzeigen, dass dieses Bild mehr mit der Angst der Menschen als mit der Realität zu tun hat. Ottmar Lattorf geht den umgekehrten Weg wie die kritisierten Mechanisten: er romantisiert und idealisiert die Zeit vor dem von ihm wahrgenommenen Umbruch. Zusammengefasst sieht das ungefähr folgendermaßen aus: Die Römer und deren "Nachfolge - Imperien" machten die europäischen Stämme zu abhängigen und hörigen Bauern, verboten die Stammesreligionen und unterzogen sie einer u. U. Jahrhunderte dauernden brutalen Zwangschristianisierung. Trotz dieser auch nach seiner Definition eindeutig patriarchalischen Struktur scheinen gerade die Unterdrückten es geschafft zu haben, davon weitgehend unbeeindruckt zu bleiben. "Das konkrete soziale Leben der so hörig gemachten Bauern auf dem Lande war noch sehr von den archaischen (auch matriarchalen) traditionellen Werten und Lebensweisen der ehemaligen Stammesgesellschaften geprägt." Dies ist die Basis seiner Argumentation. Es gab früher Menschen, die noch nicht verdorben waren, Menschen, die zum großen Teil unseren Wunschphantasien von heute entsprachen und unsere Sehnsüchte anscheinend konkret lebten. Dieses Bild wird dann ausgemalt. Im Zentrum steht dabei der enge Kontakt zur Natur, "die Verwandtschaft aller Lebensformen", man fühlte sich integriert in den ewigen Kreislauf allen Lebens. Und daneben, nicht als Ausdruck patriarchalischer Verklemmungen, sondern gerade als Ausdruck der Verbundenheit mit der Natur, die Orgien. Sie fanden "zu Vollmond statt und waren zugleich Treffpunkt, um wichtige Informationen auszutauschen, Massenpicknick, Karneval, Trink- Sexual- Orgie und Heilzeremonie." Hier wurde geschmaust, getanzt, emotionale Ekstase angestrebt und seinen sexuellen Interessen nachgegangen. Zentrum und treibende Kraft waren dabei die Frauen in der Rolle der Hexen. Ist das nicht geradezu ein paradiesisches (Männer) Bild? Hinzu kommt im Alltag ein an Lust und Lebensfreude ausgerichtetes Gesundheitswesen und natürlich die Badehäuser mit ihren Freizügigkeiten. Die Bademädchen waren natürlich "keine käuflichen Dirnen", sondern "Expertinnen in Sachen Tanz, Musizieren, Singen, Massagen usw." Auch im Bett des Mittelalters ging es scheinbar drunter und drüber. Im Gegensatz zu heute gab es für die Menschen damals auch keine Probleme mit der Freizügigkeit, weder zwischen Frauen und Männern, noch mit der Empfängnisverhütung. "Es gibt zudem weder im mittelalterlichen Europa [...] Hinweise auf ungewollte Schwangerschaften, auf Säuglingssterben, Kindbettfieber oder Mütterelend."

Ich will hier nicht näher auf einzelne Kritikpunkte eingehen, wie zum Beispiel die sehr fragwürdige Herleitung der angeblichen "deutschen Mentalität" aus über 500 Jahre altem Morden "auf ehemals germanischen, deutschen Boden". Vielmehr sei hier als Beleg für meine These der Idealisierung nur auf zwei Punkte verwiesen, die Ottmar Lattorf wohlwissend verschweigt: 1. Nach Heinsohn/Steiger war eine der wichtigsten Methoden der Empfängnisverhütung der Coitus interruptus, = der von Reich nicht umsonst als neurotisierend verdammt wurde. 2. Es ist einfach zynisch zu behaupten: "Es gibt zudem weder im mittelalterlichen Europa, noch bei irgendwelchen außereuropäischen Völkern vor der Kolonisation Hinweise auf ungewollte Schwangerschaft, auf Säuglingssterben, Kindbettfieber oder Mütterelend." Wenn es keine ungewollte Schwangerschaft gab, wozu gab es dann die Abtreibung? Und wieso wurden Kinder dann nach der Geburt wieder sanft "ins Jenseits gehievt" (O - Ton Ottmar Lattorf)?

In diese Idylle der Naturverbundenheit und freien Sexualität bricht nun die "sexuelle Zwangsmoral" in Form der Hexenverfolgung ein. Ottmar Lattorf folgt dabei weitgehend der Argumentation von Heinsohn/Steiger, mit einem wesentlichen Unterschied: für Heinsohn/Steiger war es kein "Krieg gegen das Sexuelle im Menschen", sondern der Versuch herrschender Gruppen, ihre ökonomische Situation durch "Menschenproduktion" zu verbessern. Dementsprechend werden v.a. Verhaltensweisen unter Strafe gestellt, die zur Geburtenkontrolle genutzt werden können, wie z.B. Männer begattungsunfähig machen, Empfängnisverhütung und Kindesmord. Sie kommen zu dem Schluss, dass die bevölkerungspolitische Unterbindung der Geburtenkontrolle ganz unvermeidlich auch eine "sexuelle Überwachung nach sich ziehen muss" (115). Sie argumentieren im Wesentlichen von den ökonomischen Gegebenheiten aus und nicht von den moralischen Einstellungen.

Meine Hauptkritik richtet sich aber nicht so sehr auf die Beschreibung dieser Zeit als vielmehr auf die Bedeutung, die Ottmar Lattorf ihr für die Geschichte zuschreibt. Das Vorgehen vor allem der katholischen Kirche wird für ihn zur Ursache fast aller Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen. Hierzu nur ein paar Zitate aus dem Text: "Fast alle emotionalen Deformationen und psychische Störungen, mit denen sich dann 400 Jahre später Legionen von Psychologen auseinandersetzen, nehmen hier ihren Anfang." "Alles was wir heute im sozialen Zusammenleben als emotionale Kluft zwischen Mann und Frau [...] vorfinden, ... all das geht auf Maßnahmen zurück, die der Hexenhammer gewollt und koordiniert hat." "Es kam zur Ent-Solidarisierung zwischen Mann und Frau. Es kam zu einem ständigen Machtkampf, zu einem stillen Krieg zwischen den Geschlechtern." "Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral in Europa war dermaßen massiv, dass man über die letzte Jahrhundertwende noch spekulierte, ob die Frau überhaupt sexuelle Empfindungen hat." "Es kam zur massenhaften Zementierung der emotionalen Panzerung in Europa.[...] Und diese Massen- Neurotisierung [...] ist heute das eigentliche und zentralste Problem auf der Erde." "Das was uns heute als sexuelle- emotionale, neurotische Störungen der Menschen, als notwendige und zwanglose Folge des christlichen Glaubens daherkommt, ist in Wahrheit Resultat eines kirchlich und staatlich organisierten Mordens." usw. usw.

Auf den Punkt gebracht ist dies eine Argumentation, die einem Mythos alle Ehre machen würde. Einmal haben wir das einfache Volk, das trotz aller Unterdrückung an seiner Naturverbundenheit und Sexualfreundlichkeit festhält. Auf der anderen Seite haben wir den bösen Gegenspieler in Gestalt der katholischen Kirche. Sie hat in ihren Taten und Aussagen, die sich bis auf das alte Testament zurückführen lassen , bewiesen, dass sie als Verkörperung der Gewalt, der Sexualfeindlichkeit und des Patriarchats angesehen werden kann. Dieses Böse bricht nun am Ende des Mittelalters in die Idylle der einfachen Menschen ein und bringt dort die Ordnung durcheinander, wie das der Diabolo immer tut. Wir haben nun ca. 500 Jahre später noch mit dem Scherbenhaufen zu kämpfen, den uns die katholische Kirche damals beschert hat.

Es ist unbestreitbar, dass unser heutiges Verhältnis zur Sexualität, zwischen den Geschlechtern, zur Gewalt usw. historisch gewachsen ist und es gibt genug Hinweise, dass diesen Themen in anderen Kulturkreisen durchaus andere Bedeutungen zugeschrieben werden. Dennoch halte ich eine derart monokausale Argumentation für falsch und auch den vielfältigen und anschaulichen Quellen nicht angemessen. Die Geschichte ist komplex und in ihren Entwicklungen widersprüchlich und meiner Meinung nach gerade dadurch interessant. Man sollte eine differenzierte Betrachtungsweise nicht zugunsten eines eindeutigen Freund- Feindschemas aufgeben.

 
Kritik an Reich

Interessant ist der Aufsatz aber auch, weil er auf Aussagen bei Reich aufmerksam macht, die auf einem ähnlichen Geschichtsbild basieren und meiner Meinung nach kritisch zu hinterfragen sind.

Bei Reich wird über die Ausführungen von Ottmar Lattorf hinaus deutlich, um welche Grenze es eigentlich bei dieser historischen Betrachtung geht: die Trennung des Natürlichen vom Kulturellen, zwischen Tier und Mensch, zwischen Natur und Zivilisation usw. Ich denke, es geht um unser heutiges Gefühl des Abgetrenntseins, des Entfremdetseins, um unsere heutigen, letztlich romantischen, Sehnsüchte. Sie werden fassbar und als trauriges Schicksal begreifbar, wenn sie historisch lokalisiert werden können.

In Massenpsychologie des Faschismus steht Reichs wichtiger Satz: "Der Mensch ist im Grunde ein Tier" (die folgenden Zitate aus DMdF S. 295ff). Er beschreibt die Angst der Mechanisten vor dieser einfachen Wahrheit, sie können sie nicht aushalten, zeichnen Schreckensbilder vom Tiersein, um so das zivilisierte Menschsein eindeutig positiv abgrenzen zu können. Dämonisierung der Natur und Grenzziehung zwischen Tier und Mensch als Ausdruck der Angst gepanzerter Menschen. Ich habe oben ausgeführt, dass diese Tradition u.a. auf Hobbes zurückgeht.

 

Man könnte demzufolge annehmen, Reich thematisiere den heutigen Menschen als eine Ausprägung des Tiersein. Aber weit gefehlt. Er stellt den Größenphantasien des zivilisierten Menschen die Sehnsüchte desselben gegenüber. Er dämonisiert nicht die Natur, sondern idealisiert sie. Er zeichnet keine Schreckensbilder, sondern reproduziert die ebenfalls sehr alten Bilder von der reinen Natur und vom edlen Wilden. Von diesem Natursein sind wir mechanistisch mystisch strukturierten Menschen weit entfernt. Reich zieht letztlich die gleiche Grenze wie die Mechanisten, bloß mit umgekehrten Vorzeichen. Er ist sich mit ihnen einig in der Grenzziehung, widerspricht ihnen aber in der Bewertung. In der einen Bewertung hat der Mensch durch die Kultur das Tiersein überwunden, in der anderen Bewertung wird das jetzige Menschsein in seine guten ursprünglichen Anteile und die negativen neuen Anteile aufgespalten: "Das Leben des Menschen ist aufgespalten in ein Leben nach biologischen Gesetzen [...] und ein zweites Leben, das durch die Maschinenzivilisation bestimmt ist." (DMdF 296).

Später prägt er für die zweite Seite den Begriff der Widernatur des Menschen. Sie ist nicht einfach eine Ausdifferenzierung der Natur und des Lebens, sondern aufgrund des Panzers gegen diese gerichtet. Dies unterscheidet den (mechanistischen) Menschen von allen Tieren.

Die prinzipielle Anderssein des Menschen ist für ihn so selbstverständlich, dass er es nicht für nötig hält, es zu begründen oder gar empirisch zu belegen. Mir ist keine Stelle bekannt, in der er darlegt, wie er darauf kommt, dass Tiere nicht maschinell, nicht sadistisch, und "ihre Gesellschaften (innerhalb derselben Art) [...] unvergleichlich friedlicher als die des Menschen" sind. Hier wird der Wissenschaftler Reich eindeutig von seinen idealisierten Bildern am kritischen Forschen gehindert. Anstatt tatsächlich das Verhältnis zwischen den Tieren und den Menschen genauer zu analysieren, benutzt er die angeblich so friedlichen Tiere nur als Hintergrund, auf dem sich die maschinell entarteteten Menschentiere gut negativ abheben. In dieser wissenschaftlich nicht begründeten Grenzziehung zwischen den Tieren und den mechanistischen Menschen sehe ich einen der größten Schwachpunkte in Reichs Gedankengebäude, der sich in mehreren seiner Argumentationketten wiederfindet.

Anstatt seine Behauptungen über das Tier - Mensch Verhältnis z.B. durch eine Charakteranalyse der Tiere zu belegen zieht er es vor, in der Phylogenese des Menschen nach einen Umbruch zu suchen. So bin ich mir sicher, dass ein Tier in dauernder Gefangenschaft (Zoo) oder dauernder Verwöhnung (manche Haustiere) nur mit einem Charakterpanzer überleben können. Reich ist sich seiner Grenzziehung aber so sicher, dass er diese Fragestellung gleich überspringt und die nächste Frage thematisiert: "Why did man as the only living animal species develop an armor" (Cosmic Superimposition S.111)

Er steht so vor demselben Paradox, das in der Bibel durch die Paradiesgeschichte gelöst wird: Wie kommt es, dass der natürliche Mensch aus der Ordnung der Natur ausschert und zumindest in bestimmten Bereichen wider sie lebt? Als Materialist kann er dabei nicht auf Instanzen zurückgreifen, die von Außen einwirken, sondern muss den Schritt von Natur zur Widernatur aus sich selbst heraus erklären. Dies gelingt ihm nicht.

Ihm gelingt es anhand der Daten von Malinowski Veränderung in der sozialen und individuellen Struktur der Menschen aufzuzeigen. Dies ist allerhand, weil es wichtig ist zum Verständnis unserer heutigen Gesellschaft. Auch ich finde den Umgang der Trobiander mit der Sexualität und die Organisation ihrer Gesellschaft sehr spannend, aber unsere Gesellschaft ist in keinem Punkt unnatürlicher als die der Trobiander. Genauso wenig wie es auf dieser Ebene eine Grenze zwischen den Hexen und uns gibt, gibt es diese zwischen den Trobiandern und uns. Dieses Festhalten Reichs an einer scheinbar selbstverständlichen Grenze kann wie bei den Mechanisten als eine Funktion der Angst interpretiert werden, als ein Versuch, feste Punkte in seine Ordnung zu bringen, um ihm so eine eindeutigere Orientierung zu geben.

Ich denke aber auch, dass dies Reich zumindest in den späten Jahren klar war. Da spricht er nicht mehr so viel von Brüchen, sondern eher von fließenden Gegebenheiten, starre Strukturen und Nullpunkte sind ihm (wie Elias) suspekt. Prozesse, wie sich das eine aus dem anderen herausentwickelt, aber trotzdem eins bleibt, sind seine Themen. Wissenschaft mit ihren Definitionen und Grenzziehungen ist ihm nur ein grober Versuch, der fließenden Wirklichkeit nahe zukommen.

Hier sollen einige Zitate von Reich zu dieser Sichtweise genügen: "Die wissenschaftliche Theorie ist, betrachtet vom Standpunkt des lebendigen Lebens, ein künstlicher Haltepunkt im Chaos der Erscheinungen. Sie hat daher den Wert eines seelischen Schutzes. Man droht nicht zu versinken in diesem Chaos, wenn man die Erscheinungen fein säuberlich eingeteilt, registriert, beschrieben hat und somit verstanden zu haben glaubt." ( Die Entdeckung des Orgons S.39) "zero (0) does not exist in nature; it simply cannot be found or placed anywhere." ( Orgonometric Equations S.176) "Das funktionelle Denken duldet keine statischen Zustände. Ihm ist das Naturgeschehen bewegt, selbst dort, wo es sich um erstarrte Strukturen und unbewegte Formen handelt. Es ist gerade diese Bewegtheit und Ungewissheit im Denken, das immerzu Fließende, das den Beobachter in Kontakt mit den Naturvorgang setzt." (Äther, Gott und Teufel S.91) "Ich habe es an mir selbst und an vielen Mitarbeitern immer wieder erlebt, dass das Festhalten an starren Grenzen und Gesetzen die Funktion hat, psychische Unruhe zu ersparen. Indem wir das Bewegte erstarren lassen, fühlen wir uns merkwürdigerweise weniger bedroht, als wenn wir ein bewegtes Objekt erforschen." (Äther, Gott und Teufel S.99)

Entsprechend dieser Ansätze gehe ich davon aus, dass die Maschinenzivilisation eine Ausdifferenzierung des biologischen Lebens ist und nicht ihr Gegensatz. Mechanisten und Mystiker sind wie die Trobiander und die Hexen nur eine Ausdifferenzierung der Lebensfunktion, nicht mehr und nicht weniger.

Natürlich kann man sich ausführlich darüber auslassen, inwieweit sich die Trobiander/Hexen von den Mechanisten/Mystikern unterscheiden. Man wird dann letztendlich bei einer möglichst klaren Grenze enden. Einer Grenze, die einen Umbruch, einen Einbruch markiert, die einen Nullpunkt einer Entwicklung setzt und es einem ermöglicht, sich eindeutig zurechtzufinden. Je perfekter dies gelingt, desto weniger hat es mit der fließenden Wirklichkeit zu tun. Reich hätte in den späten Jahren eher das Gemeinsame interessiert: Trobiander/Hexen und Mechanisten/Mystiker sind sehr unterschiedliche Menschen und haben aber trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Funktion. Wie sieht die aus?

Darüber hinaus halte ich es für sinnvoll, das funktionelle Denken endlich auch konsequent auf das Verhältnis Tier - Mensch anzuwenden, insbesondere unter dem Aspekt der Panzerung. Es gibt für mich kein überzeugendes Argument, die Panzerung als ein allein menschliches Problem zu thematisieren. Wie Reich an anderen Stellen gezeigt hat, ist Erstarrung ein Problem des Lebens, bzw. der gesamten Natur, und als solches sollte es auch erforscht werden. Die Übergänge würden wieder fließender und in der Geschichte würden weniger Einbrüche und dergleichen erforscht. Dieser Ansatz wäre gut in Reichs Werk integrierbar. Aus meiner Sicht hat Reich in seinem Buch über die Trobiander einen kleinen Ausschnitt aus einem fließenden Prozess beschrieben und diesen in eine Hülle namens Einbruch der Sexualmoral gesteckt, die aus allen Fugen bricht. Ich sehe bei dieser Thematik weniger einen Einbruchin die Geschichte, als einen mechanistisch/mystischen Einbruch in die funktionelle Denkweise.

 
Hinterhergeschoben (Kritik an Senf):

Nachdem ich dies geschrieben hatte, fand ich in dem neuen Buch von Bernd Senf Die Wiederentdeckung des Lebendigen genau die Argumentation wieder, die ich oben kritisiert habe. Auch hier geht es wieder um den Zeitpunkt als die Gewalt in die "menschliche Gesellschaft eingebrochen ist" (245), wie diese "Initialzündung" (255) anschließend zur "Kettenreaktion der Gewalt" führte und die Menschen aus dem Paradies vertrieb. Also der gleiche Aufbau: anhand einiger Indizien wird ein Paradies als konkrete Gegebenheit konstruiert, davon wird unsere patriarchale Gesellschaft hart abgegrenzt und dazwischen die Katastrophe geortet. Warum, warum diese Suche nach dem Zeitpunkt vor dem "dramatischen Umbruch" (252), vor dem alles besser war, warum dieser teils krampfhafte Versuch, das Paradies als konkrete vergangene Realität zu konstruieren?

Hierauf gibt Bernd Senf eine Antwort. Er möchte eine andere Gesellschaft mit anderen Menschen. Eine Gesellschaft, die sich an der Zeit vor dem Umbruch als reales Vorbild orientiert. Wenn die mythischen Bilder vom Paradies als historische Beschreibung gesehen werden, können sie als konkrete Vorbilder dienen. So in etwa Bernd Senfs Argumentation (252). So wird auch klar, warum es wichtig ist, ein konkretes Paradies wissenschaftlich zu belegen und zu klären, warum wir davon getrennt sind. Seine Gegensatzanordnung stellt der historischen Realität den nicht realen Mythos gegenüber. Mythos ist etwas was "den Eindruck erweckt, als habe es sich dabei niemals um eine Realität gehandelt und als könne es auch nie Realität werden." (252)

Mythen sind aber wie unsere wissenschaftliche Betrachtungsweise nur Interpretationen der Realität. Sie können demzufolge nur auf der Basis der Sinnwelt verstanden werden, in der sie gebildet wurden. Dies gilt für die wissenschaftliche Betrachtungsweise genauso. Menschen, die in der Tradition der oralen Weitergabe von Stammesgeschichte aufgewachsen sind, haben aus dieser Welt heraus keinen Zugang zu den Fakten unserer Geschichtsbücher. Wenn sie diese als Legenden interpretieren würden, würden sie unserer Realität wohl kaum näher kommen. Sie müssen sich schon mit unseren Sinnwelten beschäftigen, bevor sie den Sinn in unseren Geschichtsbüchern verstehen könnten. Das gleiche gilt für die Mythen. Niemandem ist wirklich geholfen, die Inhalte der Mythen in die Welt unserer Geschichtsauffassung zu pressen, weder den damaligen Menschen, die den Mythos vom Paradies geprägt haben, noch uns, denn wir würden massiven Irrtümern über die Realität aufsitzen. Dass das Paradies ein auch heute noch interessanter Mythos ist, hat nicht zuletzt Reich gezeigt (Christusmord), als Beschreibung historischer Gegebenheiten ist sie fehl am Platz.

Freud hatte in seiner Kulturtheorie eine Konstante in sein Menschenbild eingefügt, den Ödipuskomplex und die Sublimierung als kulturstiftenden Mechanismus. Reich hat demgegenüber eine historisch kritische Position bezogen, indem er diesen Mechanismus als geworden beschreibt und nicht als Konstante. Bei den Trobiandern hat er gezeigt, dass es durchaus Kulturen gibt, die im Gegensatz zu Freuds Behauptungen ohne wesentliche Sexualunterdrückung auskommen. Dies ist der wichtigste Punkt überhaupt: es ist eine Alternative zur jetzigen Gesellschaft und Kultur, inklusive Sexualunterdrückung denkbar. Das, was so oft als Wesensmerkmal des Menschen ausgegeben wird, ist hinterfragbar, da es sich sozial entwickelt hat. Und wenn eine Alternative denkbar ist, so ist es auch möglich, in dieser Realität Schritte in Richtung dieser Alternative zu versuchen.

Das ist wohl auch Bernd Senfs Bestreben. Aber dafür braucht man weder das unrealistische Idealbild eines historisierten Paradieses noch das genaue Datum, als das Unheil in die Welt einbrach.