Vorweg |
If the kids are united
Einmal in meinem Leben hab ich mal
was zu sagen,
und das will ich jetzt sagen, denn jetzt ist heute,
Liebe ist da, um genommen und genossen zu werden,
also lasst uns alles nehmen und alles genießen!
Wenn die Kids zusammenhalten, dann kann keiner sie spalten!
In dem Dreck um dich rum, was siehst du
da?
Kids mit Gefühlen wie du und ich,
verstehe ihn und er wird dich verstehen,
denn du bist er und er ist du!
Wenn die Kids zusammenhalten, dann kann keiner sie spalten!
Ich will nicht abgelehnt werden,
ich will nicht abgewiesen werden,
Freiheit ist da, um deine Meinung zu sagen,
ich bin die Freiheit, wie fühlst du dich?
Sie können mir ins Gesicht lügen, doch mein Herz belügen
sie nicht,
wenn wir zusammenstehn, dann ist das erst der Anfang!
If the kids are united ... (Jimmy Pursey;
Harrys Lieblingslied) |
Harry ist ein gewaltkrimineller Skin der Wert darauf
legt nicht als 'rechts' zu gelten.
Er erlebte seine Kindheit in der DDR und wollte sich wie seine Eltern
hier integrieren. Die Wende brachte seine Koordinaten durcheinander und
anstatt wie geplant zur NVA zu gehen lebte Harry in verschiedenen Szenen
auf der Straße.
Nach mehreren Körperverletzungen sitzt er nun im Jugendstrafvollzug
und hat gerade von seiner Freundin erfahren, dass er Vater wird. |
Im Rahmen der 'Hallenser Biographiestudie zur Jugfendgewalt'
hatte ich die Möglichkeit mehrere autobiographische Interviews mit
gewaltkriminellen Jugendlichen durchzuführen.
Harrys hoher Grad der Individualisierung und die Betonung der Wende als
Einschnitt machten ihn zu einem interessanten Gesprächspartner. |
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Das Interview mit Harry fand in der U-Haft ca. 3 Wochen nach seiner Inhaftierung
und einige Wochen vor seinem 21. Geburtstag statt.
Er wurde 1974 geboren und lebte ungefähr bis zu seinem 16. Lebensjahr
bei seinen Eltern. Ab da lag der Schwerpunkt seines Lebens in der Skinszene.
In diese Zeit fallen auch seine Gewaltdelikte, die zur Inhaftierung führten.
Dieses Skinsein zeigte er auch beim Interview durch seine kurzen Haare
und die entsprechende Kleidung. Im Gegensatz zu vielen anderen Skins trug
er aber einen sehr gepflegten Oberlippen- und Kinnbart. Harry hatte ausgeprägte
Gesichtszüge, wirkte erwachsen und machte einen sympathischen Eindruck.
Während des Gespräches kam es oft zum Blickkontakt und er wirkte
zwar nervös aber zugleich offen.
Es spricht vieles dafür, dass er viele Gegebenheiten nicht einer
objektiven chronologischen Zeiteinteilung entsprechend einsortiert. Es
gibt Überschneidungen und Zeitangaben, die sich gegenseitig ausschließen.
Trotzdem bietet er eine relativ klare chronologische Struktur seiner Biographie.
Sie ist geprägt von zwei Brüchen in seinem Leben: einmal die
politische Wende 1989/90 und zum zweiten die aktuelle Inhaftierung und
die Information von seiner Freundin, dass er Vater wird. So entstehen
drei Bereiche: die Vorwendezeit (nicht gleichzusetzen mit der Kindheit),
die zukünftige Zeit, die in der Inhaftierung ihren Ausgangspunkt
nimmt und die Zeit zwischen der Wende und dem Beginn der Zukunft. Hinzu
kommt die aktuelle Situation, die von zu nutzenden Startzeichen geprägt
ist. Abgesehen von den jeweiligen Zeiträumen sind natürlich
die Brüche von besonderem Interesse.
Auch auf der Ebene seiner sozialen Bezüge gibt es eine relativ klare
Struktur. Die Trennung zwischen dem sozialen Nahraum und dem institutionellen
Bereich. Im sozialen Nahraum sind vor allem die Eltern wichtig und im
institutionellen Bereich muss zwischen der DDR Zeit und der aktuellen
Situation differenziert werden. Der dritte Bereich, der eine Zeit lang
die genannten Bereiche in sich integrieren kann, ist der der Kumpels,
seine Szene.
Die Struktur auf der sozialen Ebene steht wiederum in einer engen Beziehung
zur zeitlichen Einteilung. Entsprechend dieser Struktur wird Harry im
Folgenden vorgestellt.
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Die Vorwendezeit |
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Eltern |
Harrys Erzählung bezüglich des Lebens im sozialen
Nahraum ist von Ungewissheiten, Ambivalenzen und Zweifeln geprägt.
So beginnt er seine Darstellung mit dem oft wiederkehrenden Thema der häufigen
Umzüge während seiner Kindheit. Er zählt vier Städte
auf, in denen er gelebt hat. Um den Charakter der Nichtsesshaftigkeit noch
zu unterstreichen betont er auch noch die kurzen Aufenthaltszeiten an den
jeweiligen Orten: „wir haben so manchen Standort gerade mal ein halbes
Jahr gewohnt, da sind wa schon wieder zum nächsten gezogen.“
Durch Formulierungen wie „so die janzen Ecken da“ legt er darüber
nahe, noch mehr Umzüge anzunehmen. Das „viel umgezogen“
wird zum zentralen Merkmal seiner Kindheit, „also so’hn hin
und her“ zum Charakteristikum seiner räumlichen Verortung.
Dies ändert sich, als er ungefähr 10 Jahre alt ist: damals vor
10 Jahren sind sie in N „eben ansässig“ geworden. Aber
auch dieser Situation ist er sich nicht ganz sicher. Er geht davon aus,
dass „wir wahrscheinlich och“ da wohnen bleiben werden. Das
„wir“ wird gleich darauf eingeschränkt: „zumindest
meine Eltern“, im weiteren Zusammenhang schwankt er zwischen dem 'wir‘
und dem 'die‘.
Abhängig waren die häufigen Umzüge von den beruflichen Veränderungen
der Eltern. Sein Vater „war so ziemlich der eenzigste“ gewesen,
der Lehrlinge ausbilden konnte, in einem Beruf, „wo es eigentlich
nich allzuviele Ausbilder gab.“ Als Harry diesen Zusammenhang konkretisieren
will, wird ihm klar, dass er ihn selbst nie ganz verstanden hat, damals
als Kind habe er es nicht richtig begriffen und später habe er nie
gefragt.
Auch wenn der Vater im Gegensatz zur Mutter einen Meister gemacht hatte
und somit wahrscheinlich die treibende Person bezüglich der Umzüge
war, so fällt doch auf, dass die Eltern in den wesentlichen Aussagen
nicht differenziert werden. Insbesondere auf dieser beruflichen Ebene, die
bestimmend für die äußere Struktur des Familienlebens war,
erscheinen die Eltern als Einheit: „Die haben bis jetzt immer alles
zusammen gemacht.“ Dieser gestaltenden Einheit steht Harry als einzelnes
passives Anhängsel gegenüber, auch seine Brüder haben in
diesem Zusammenhang keine Bedeutung. Da die Umzüge immer beruflichen
Erfordernissen folgten, scheinen auch die Eltern von äußeren
Bedingungen in der Gestaltung abhängig. Auch wenn er diese Erklärung
der Eltern nie ganz verstanden hat, so hat er sie doch als Theorie für
seine Kindheit akzeptiert.
Harry hat unter diesem „Umhergeziehe“ sehr gelitten, es hat
ihn „janz schön gequält“. Er musste immer neue Freunde
suchen und hatte Schwierigkeiten sich in der jeweils neuen Schulklasse zu
integrieren: die Kinder waren gehässig und gemein.
Aber auch diesen schlechten Erfahrungen gewinnt er etwas Positives ab: er
ist kontaktfreudig geworden und hat gelernt, sich schnell anzupassen. So
erklärt er sich, „dass ich so ganz schnell mit jemanden janz
jut klarkommen kann.“
Neben der schlechten räumlichen Verortung gibt es noch zwei weitere
Punkte, die seine Beziehung zu seinen Eltern und das Familienleben charakterisieren:
er hat „ebend alles jekricht“ und wurde „relativ selten
mal bestraft“. Genauer gesagt thematisiert er seine Beziehung zu den
Eltern über deren Erziehungsstil in zwei wichtigen Punkten. Bei beiden
Themen geht es um die Frage der Grenzziehung durch die Eltern. Es war für
ihn eine Frage der Zeit und des 'nervens‘ bis die Eltern nachgaben
und ihm das gegeben haben, was er haben wollte. Dieses Nachgeben erscheint
als Weichheit, als Konturlosigkeit der Eltern. Ähnliches gilt
für die geringe Sanktionierung. Er zählt ausführlich sein
Fehlverhalten in der Schule auf und sagt anschließend, dass seine
Eltern „och relativ wenig dazu gesagt“ hätten „also
im Prinzip gar nüscht eigentlich“. Diese Nichtreaktion ist es,
was ihn verunsichert und ihn mit ambivalenten Gefühlen konfrontiert.
Einerseits war es gut für ihn, nicht hart sanktioniert zu werden, andererseits
ist er enttäuscht von den Eltern, vermisst die Grenzziehung und führt
das als eventuellen Grund seiner Kriminalität an.
Es gibt kaum eine Aussage zu seinem Familienleben, die er nicht relativiert.
Insbesondere die Eltern erscheinen konturlos, ohne Eindeutigkeiten, auf
die er Bezug nehmen könnte.
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DDR Institutionen |
Ganz anders als seine Eltern beschreibt er die Institutionen
der DDR. Sein ganzer Erzählstil verändert sich, so kommen kaum
noch Modalisierungen vor. Entsprechend erscheinen die Institutionen Schule,
Junge Pioniere, FDJ, NVA wesentlich konkreter, sie haben eine klare Kontur
und werden eindeutig positiv bewertet.
Diese positive Bewertung heißt allerdings nicht, dass er hier keine
Schwierigkeiten hatte. Ganz im Gegenteil, gerade in der Schule hatte er
große Probleme. Dies ist der Ort, an dem er die Nachteile der häufigen
Ortswechsel deutlich zu spüren bekommt: die Mitschüler waren gehässig
und gemein. Er wird aber nicht müde zu sagen, dass sich die Lehrer
in dieser Situation viel Mühe gegeben haben, „das schon cool
zu machen“. Gerade diese Fürsorge durch die Lehrer wird er später
vermissen.
Auch die Probleme, die er aufgrund seines Verhaltens ('nicht der Leistung‘)
in der Schule zeitweise bekommen hat, mindern nicht sein positives Bild
der Schule. Sie sind für ihn vielmehr konkrete Sanktionen einer klaren
Struktur. Wichtiges Kennzeichen der Struktur war der Gemeinschaftssinn,
der gute 'Zusammenhalt‘: „Da sprach ma nich über een Schüler
[...], sondern von der ganzen Klasse“. Die Schule, FDJ und die Pioniere
fasst er zu einem System zusammen. Die Pioniere und die FDJ seien sehr gut
organisiert gewesen, so dass viel weniger als heute über die Stränge
geschlagen hätten. Er engagiert sich hier in den Organisationen (Gruppenrat,
Freundschaftsrat) und fährt mit ihnen nach Polen und in die Tschechei.
Es war „einfach perfekt gewesen“. Fast trotzig betont er mehrfach,
dass es ihm gefallen hat, dass er da Spaß dran gehabt habe.
Zentrale Punkte sind im Bezug auf dieses System, dass es organisatorisch
einfach perfekt war, die Strukturen der einzelnen Organisationen gut ineinander
übergingen und klar zu erkennen waren. Beide Seiten dieser sozialen
Kontrolle, sowohl die Reglementierung als auch die Schaffung von Sozialität,
sind ihm wichtig. Es gab immer Personen, die sich Mühe gaben, bei der
Integration in diese Strukturen zu helfen. Die staatlichen Institutionen
bildeten so den Rahmen, in dem er sich eindeutig orientieren konnte. Auch
zu den Vertretern dieser Institutionen hatte er eine klare Beziehung, die
von eindeutigen Interessen geprägt war.
Diese Unterschiede zu der Welt der Eltern beinhalten aber nicht zwingend
einen Widerspruch zwischen beiden Welten. Es gibt keine Hinweise auf eine
Distanz der Eltern zu den DDR Institutionen; sie scheinen sich in ihrem
Beruf engagiert zu haben, ansonsten gibt es aber auch keine Anzeichen für
eine enge Verbundenheit der Eltern mit dem System. Wie meistens, so schildert
er sie auch in Bezug auf die DDR als eher indifferent. |
Ausgrenzung in der Vorwendezeit |
Bei Ausgrenzung wird jemand jenseits einer Grenze verortet.
Dieser Prozess ist am klarsten bei eindeutigen Grenzen zu identifizieren.
Aber gerade diese sind für ihn im sozialen Nahraum der Familie kaum
erkennbar. Damit werden aber auch Kategorien wie Nähe und Distanz zu
kaum erfahrbaren Begriffen. Er war die Kindheit über wahrscheinlich
immer bei den Eltern, entzog sich nicht deren Kontrolle, trotzdem wäre
es falsch von einer engen Anbindung an die Eltern zu sprechen. Seine Beziehung
zu ihnen kann am besten als ein ungewisser Schwebezustand zwischen Nähe
und Distanz beschrieben werden. An einigen Stellen zeigt er darüber
eine Enttäuschung, die er den Eltern aber wiederum nicht konkret vorwirft.
Ausgrenzung, die als solche erlebt wird, scheint in dieser Welt nicht möglich,
eindeutige Nähe bzw. Integration aber auch nicht.
Anders wiederum im Bereich der staatlichen Institutionen. Hier erlebt er
die konkrete Ausgrenzung durch die Mitschüler, die ihn als Fremden
ausschließen. Gleichzeitig gibt es aber die Lehrer, die diesem Prozess
entgegenwirken. Durch seine Anpassungsfähigkeit gelingt die Integration
in soweit, dass er in den Institutionen Funktionen übernehmen kann.
Die erlebte Ausgrenzung, v.a. als Reaktion von Kindern auf sein Anderssein,
kränkt ihn, aber sie ist begründet, eindeutig und überwindbar,
und sie ist Ausdruck dafür, dass seine Person in einer konkreten sozialen
Beziehung als solche wahrgenommen wird. |
Traditionelle Lebensplanung |
Harry wurde in der Vorwendezeit klar auf ein traditionelles
Leben in der DDR vorbereitet. Die Eltern treten dabei als Sozialisationsinstanz
in den Hintergrund, die staatlichen Institutionen sind demgegenüber
mit ihren klaren Strukturen und ihrem Bemühen um Integration wesentlicher.
Beide Welten werden von ihm sehr unterschiedlich charakterisiert, wobei
die klare Struktur versus die Konturlosigkeit der Eltern als deutlichstes
Unterscheidungsmerkmal erscheint.
Abgesehen von ein paar Überschneidungen stehen so beide Welten eher
parallel zueinander. Von den Eltern wird er materiell versorgt, aber aufgrund
deren nachgiebigen Weise mit Grenzen umzugehen, kann er von ihnen keine
Strukturierung seines Lebens erwarten. Ganz anders bei den staatlichen
Institutionen. Hier lernt er soziale Nähe in Form von 'Zusammenhalt‘
kennen und hier trifft er auf Strukturen, in denen er sich gerne engagiert.
Die Inhalte, aber auch die Anforderungen der Strukturen sind eindeutig,
er soll sich hier integrieren, sich und sein Leben an diese Strukturen
anpassen. Rückblickend hebt er gerade diese Eindeutigkeit positiv
hervor: „Da konntest du gar nichts anderes denken, weil es gar nichts
anderes gab. Drum eben das war einfacher.“ Er habe sich damals nicht
„verarscht“ gefühlt. Die Eindeutigkeit wird hier mit
Ehrlichkeit assoziiert. So ist auch verständlich, warum er mehrfach
seine Anpassungsfähigkeit positiv hervorhebt. Dies ist die einzige
erwähnte positive Eigenschaft aus der ambivalenten Welt der Eltern,
die er nutzen kann. Der Integrationsmodus der Kindheit ist deutlich sichtbar:
Anbindung und Anpassung.
Im System der staatlichen Institutionen wird nun auch seine Lebensplanung
konsequent vorangetrieben. In der 8. Klasse war er in der Kaserne und
ihm ist klar, dass er sich bei der NVA verpflichten will. Er bekommt auch
eine Zusage: „Die ha’mm jesagt, des wird alles jut und alles
klappt“. Sie zeigen ihm sogar Möglichkeiten auf, dort eine
Lehre zu machen. Nach der Jugendweihe „war da noch mal jemand“,
der ihm sagt, „das klappt alles, das wird wunderbar und wir freuen
uns“. Die konventionelle Lebensplanung in einem traditionalen System
scheint gesichert. Nach der Schule, den Pionieren und der FDJ geht er
zur NVA, macht da seine KFZ Lehre und dann die Ausbildung zum Unteroffizier
„und dann hab ich meine Ruhe bis ebend meine Tage beendet sind“.
Dies ist ihm so selbstverständlich, dass er sich keine Gedanken über
alternative Lebensläufe macht. Die Eindeutigkeit der Strukturen spiegelt
sich so in seiner Lebensplanung wieder. Was er bei seinen mobilen Eltern
vermisst, scheint er über Konformität zu erhalten: Klarheit,
Berechenbarkeit, soziales Eingebundensein und Ruhe.
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Die Wende – „da bricht
ne Welt zusammen“ |
Die Wende 1989/90 trifft Harry völlig unvorbereitet und zwar in dem
Bereich, in dem er sich sicher gefühlt hatte, der seinem Leben die
Struktur gab. Mit den DDR Institutionen verliert er nicht nur die Sozialisationsinstanzen,
die ihm seine Lebensplanung nahe gelegt hatten, sondern auch die Strukturen,
in denen er sie hätte verwirklichen können. Für ihn war die
Wende ein „Schock“, „da bricht ne Welt zusammen“.
Die Wende auf der Makroebene wird so auch auf der Mikroebene zum zentralen
Wendepunkt in Harrys Leben. Mit dem Zusammenbruch der Welt der staatlichen
Institutionen bricht auch ein Teil seiner Identität und wesentliche
Aspekte seiner Lebensplanung zusammen. Er konstruiert sowohl auf der gesellschaftlichen
als auch auf der persönlichen Ebene ein eindeutiges Vorher und Nachher.
Konkret schildert er am Beispiel der Schule, wie er die Wendezeit in der
8./9. Klasse erlebt hat: Sie brach „uf eenmal“ in den Schulalltag
ein und veränderte dort grundlegend die Situation. Am deutlichsten
wird dies an der veränderten Bedeutung der Lehrer und Vertrauenspersonen.
Sie waren nicht mehr die Personen, die sich um ihn gekümmert haben,
die die Integration vorantrieben, sondern Personen, die mit den neuen Strukturen
große Schwierigkeiten hatten, die „um ihren Arbeitsplatz jezittert“
haben. Die Personen, die vorher einen wichtigen Beitrag zur Herstellung
der Gemeinschaft leisteten und ihm eindeutig sagten, was zu tun war, sind
aufgrund der Wende verunsichert und gezwungen, nur noch an sich zu denken.
Die eindeutige Struktur zerfällt, die Lehrer haben sich „von
uns abgewandt.“ Er hat dabei Verständnis für die Ängste
und Probleme der Lehrer und deren Verhalten. Sie sind, wie er, Opfer eines
von außen gesteuerten Prozesses. Die Schule schließt er noch
ab und ist auch ganz zufrieden mit sich, dass er die 10.Klasse mit einer
Zwei beenden kann. Dieser relativ hohe Grad der Schulbildung ist unter unseren
Probanden weit überdurchschnittlich.
Für seinen Lebensentwurf katastrophal war demgegenüber die Ablösung
der NVA durch die Bundeswehr. Während die NVA soziale Nähe signalisierte,
fühlt er sich von der Bundeswehr abgelehnt. Er bekommt einen Brief,
in dem ihm gesagt wird, dass nicht mehr die Möglichkeit bestehe, ihn
„aufzunehmen“. Auch wenn nicht ganz klar ist, wann und warum
er diesen Brief erhält, so assoziiert Harry ihn eindeutig mit der Wende.
Wie diese kommt er für ihn von außen und unvermittelt. Der Wechsel,
warum das nicht mehr gilt, was vor kurzem noch galt und warum es jetzt neue
Anforderungen gibt, ist ihm unverständlich. Dass etwas Selbstverständliches
einfach verschwindet ist für ihn nicht nachvollziehbar.
Was sich auf institutioneller Seite als krasser Bruch in seiner Biographie
darstellt, hat in der Welt der Familie für ihn keine Bedeutung. Hier
wird bezüglich der Wende weder ein Bruch markiert, noch auf Kontinuität
hingewiesen. |
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Die Zeit zwischen der Vergangenheit
und der Zukunft |
Wie die Überschrift schon ausdrückt, wird die
folgende Phase als eine Interimszeit verstanden. Es ist die Zeit, nachdem
Harrys Leben aufgrund der Wende durcheinander geraten ist und bevor er wieder
einen neuen Lebensentwurf vorlegt.
Die Wende erlebte er im Alter von 16 Jahren und den zweiten Lebensentwurf
präsentiert er kurz vor seinem 21. Geburtstag. Diese Phase umfasst
demzufolge einen Zeitraum von 4-5 Jahren. In dieser Zeit fängt er eine
Lehre an, integriert sich in eine rechte Skinszene, distanziert sich wieder
von ihr, reißt von zuhause aus, hat mehrere Freundinnen, macht mehrere
Hilfsarbeiterjobs, integriert sich in der Großstadt in eine andere
Skinszene, begeht mehrere Straftaten und kommt aufgrund derselben zweimal
in Untersuchungshaft.
Schon allein dieser grobe Überblick zeigt den Kontrast zwischen seiner
Lebensplanung, die auf Konstanz und Ruhe aufbaute und dem tatsächlichen
Leben. Dieses Leben ist sehr unruhig und komplex und nicht mehr mit zwei
Bereichen (Eltern, Institutionen) charakterisierbar. Seine Lebenswelten
differenzieren sich aus und neue kommen hinzu. Teilweise gleichzeitig gibt
es aber bei Harry auch die Tendenz, dieser Ausdifferenzierung entgegenzuwirken.
Um diesem gerecht zu werden, gliedere ich die Phase noch einmal in zwei
Bereiche. Diese Phasen können zeitlich nicht präzise getrennt
werden, dazu sind die Prozesse zu komplex und seine Zeitangaben zu widersprüchlich.
Ganz grob kann aber davon ausgegangen werden, dass der Beginn der zweiten
Phase auf den Zeitpunkt drei Jahre nach der Wende datiert werden kann, als
Harry ungefähr 19 Jahre alt war. |
Differenzierung und Distanzierung |
In Harrys Biographie laufen zwei schwierige Übergänge
zeitgleich ab: Zum einen die Wende und zum anderen der Übergang in
die Arbeitswelt. Der geplante Übergang in die Arbeitswelt kann von
ihm aufgrund der Wende nicht vollzogen werden und er ist gezwungen, sich
neu auszurichten. Das Neue hat dabei eine mehrfache Bedeutung: einmal muss
er den alten Plan verwerfen und durch einen neuen ersetzen, zum anderen
kann er aufgrund der Wende nicht auf eine ihm bekannte gesellschaftliche
Struktur zurückgreifen. Die Regeln der neuen Strukturen sind ihm fremd
und er erlebt sie seiner Person gegenüber als ablehnend. Wesentlich
ist aber darüber hinaus, dass seine eigene gesellschaftliche Position
auch neu für ihn ist: er ist nicht mehr in klare Strukturen eingebunden,
die ihm die schwierige Umorientierung vorgeben würden.
Es gibt aber auch Kontinuität in seinen sozialen Beziehungen. Dies
gilt vor allem in Bezug auf die Eltern, aber auch in Bezug auf Schulfreunde,
die allerdings bis zu diesem Zeitpunkt keine große Rolle in seiner
Erzählung spielten.
Sein Koordinatensystem hat sich also verändert und ausdifferenziert.
Die alte Schule gibt es nicht mehr, die Repräsentanten des alten Systems,
die Lehrer haben sich grundsätzlich geändert: sie sind verunsichert,
denken nur noch an sich und kümmern sich nicht mehr um ihn. Die neue
Schule verliert so ihre Autorität und Attraktivität. Gleichzeitig
treten die Mitschüler als Personenkreis hervor, die wie er auf Distanz
zur Schule gehen.
So entsteht die neue Konstellation, die schon in den ersten Sätzen
bezüglich dieser Phase erkennbar ist: „Da jing des denn einfach
los, das ich da jesagt habe, für was denn eigentlich. Dann bin ich
eben früh’s aus dem Haus jejangen, aus meinem Elternhaus und
bin denn zum Kumpel jejangen und ham Party jefeiert, also sind nich in die
Schule jejangen.“ Bis zu diesem Zeitpunkt gab es zwar auch zwei unterschiedliche
Welten, aber soweit sie sich nicht überschnitten lagen sie parallel
zueinander. Jetzt sind die Welten nicht mehr selbstverständlich, sondern
hinterfragbar und gegeneinander ausspielbar. Im Wesentlichen bewegt er sich
so in den drei Bereichen: Familie, neue Institutionen, zu denen auch die
Arbeitswelt gehört, und Szene. Eltern und Staat
Die Kumpels und Harry ignorieren die Regeln, klauen Mopeds usw. Sanktionen
des Staates bezüglich dieser kleineren Delikte muss Harry aber nicht
fürchten, da sein Vater selbstverständlich zahlen würde.
Der Konflikt Harry ? Staat würde also sofort durch den Vater entschärft.
Dieses Verhalten erlebt Harry aber weder als Ausdruck der Distanz des Vaters
gegenüber dem Staat, noch als Ausdruck der Nähe zum Sohn in diesem
Konflikt. Ähnlich wie die unklaren Grenzziehungen in der Kindheit wird
dies Entkräften der staatlichen Sanktionen durch den Vater diesem eher
als Schwäche ausgelegt. Es erscheint als ein Verhalten, auf das er
sich verlassen konnte, weil sein Vater nun einmal so ist.
Dies hat aber auch Auswirkungen auf sein Bild vom Staat. Auch er scheint
nicht in der Lage zu sein, klare Grenzen zu ziehen. Im Gegensatz zum DDR-
Staat, der durchaus hart sanktionieren konnte, trägt das neue System
ähnliche Züge wie seine Eltern. Dies wird später bei der
Thematisierung der Polizei noch deutlicher. Die Nähe zwischen dem neuen
System und den Eltern wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Eltern
gut in die neue Struktur integrieren können: „mein Vater ist
mehr so der Gewinner von der ganzen Sache geworden. [...] Dem geht es gut
also der freut sich. [...] Och so politisch gesehen, der is in der SPD und
so richtig weit gekommen zur Zeit, dem geht es eigentlich gut.“
Während seine Lebensplanung durch die Wende zerbricht, integrieren
sich seine Eltern in das neue System und ihnen geht es gut. Eltern und die
neue Struktur nähern sich für ihn an, so dass sich seine Distanz
nicht nur auf das neue System bezieht, sondern auch auf die Eltern ausdehnt.
Es entstehen wieder zwei Lebensbereiche: auf der einen Seite die Eltern
und die neuen Strukturen und auf der anderen Seite die Welt der Kumpels.
Die Eltern werden zu Repräsentanten des Systems und dieses übernimmt
charakteristische Merkmale der Eltern. Demgegenüber ist die Welt der
Kumpels von den Freunden aus der alten Zeit geprägt, die auf Distanz
zur neuen fremden Welt gehen.
Dafür, dass Harry nach wie vor bei seinen Eltern wohnt, erzählt
er nur sehr wenig über das Leben mit ihnen. Nachdem klar war, dass
sein ursprünglicher Lebensentwurf so nicht verwirklicht werden konnte,
dass bei der Bundeswehr zumindest eine fertige Ausbildung erwartet wird,
scheint zumindest sein Vater von ihm entsprechende Schritte erwartet zu
haben. Aber auch außerhalb der Familie scheint die Situation, dass
er zuhause ist, während sein Vater zur Arbeit geht, negativ aufgefallen
zu sein („is natürlich klar das da was rumgemobt wird“).
So beginnt er wahrscheinlich einige Monate nach dem Schulabschluss eine
Lehre zum Chemielaboranten. In der Schule war er sehr gut in Chemie gewesen,
es interessierte ihn und so konnte er es sich auch vorstellen, dies beruflich
zu machen. Schon bald nach Beginn wurde ihm aber klar: „das war absolut
nicht das, was ich mir vorjestellt habe. Ich fand’s absolut zum kotzen!“
Interessant sind dabei die formulierten enttäuschten Erwartungen: Es
ging nicht mehr um die Frage, inwieweit er durch die Arbeit in feste Strukturen
integriert wird, welche Aufstiegschancen er hat bzw. welche Sicherheiten
sie ihm für die Zukunft bieten, also alles Kriterien, die noch vor
der Wende wesentlich waren. Jetzt bemängelt er, dass die Lehre zu eintönig
gewesen sei, dass er drei Wochen lang jeden Tag das gleiche machen musste,
dass ihm das „zu blöd“ gewesen sei. Außerdem hätte
er auch noch 'Putzfrau spielen müssen‘. Die konkrete Arbeit gefiel
ihm nicht, er fühlte sich unterfordert, gelangweilt und unter seiner
Würde beschäftigt. Außerdem wollte er mehr Geld verdienen,
nach der Wende sei alles teurer geworden. Er bricht die Lehre nach drei
Monaten ab und will lieber mit Hilfsarbeiterjobs 1400,- - 1500,- DM verdienen.
Kumpels
Zu verstehen ist Harry Situation zu diesem Zeitpunkt aber nur, wenn man
gleichzeitig die Integration in die Welt der damaligen Kumpels mit einbezieht.
Wie oben erwähnt ist Harry schon zur Schulzeit mit Freunden zusammen,
die wie er die Zeit bei Eltern und Schule zugunsten der Freizeit und der
Gemeinsamkeit zurückdrängen. Hier beginnt auch seine kriminelle
Karriere mit „so’ne kleene Dinger“, eben den oben genannten
Diebstählen. Für die Karriere, von der er berichten will, scheinen
diese Delikte nicht voll gültig zu sein. Es waren Delikte, für
die es nur Geldstrafen gab, für die er nicht hätte aufkommen müssen.
Da er in diesem Segment teilweise im Konjunktiv spricht, ist auch nicht
klar, ob er tatsächlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, oder
ob er nur darauf hinweisen wollte, dass er sich des Verhaltens des Vaters
sicher war.
So setzt er einen zweiten Markierer: „aber wie jesagt eben es ging
los, mit Schlägereien und so“. Im nächsten Satz folgt auch
gleich eine Begründung für diese Delikte: „War damals ebend
mehr in der rechten Szene drinne so.“ Schlägereien erscheinen
als Normalität für die rechte Szene. So erklärt er auch nicht,
warum es in dieser Szene zu den Körperverletzungen kommt, sondern warum
er in der rechten Szene war. Quasi als Entschuldigung führt er an,
dass er damals erst 16 Jahre alt war und dass in der Gruppe Ältere
waren.
Wie in den DDR Institutionen ist in der Szene seine Anpassungsfähigkeit
gefordert, die mit Integration in eine eindeutige Struktur und entsprechenden
sozialen Kontakten belohnt wird. Die Älteren sagen ihm: „Wenn
Du mitmachen willst, dann musst Du Dir die Haare rasieren, Stiefel anziehen,
dann kannste mitkommen, so ungefähr.“ Er folgt dieser Integrationsaufforderung
schon weil er die Personen alle von der Schule her kennt, die damals in
die rechte Szene gegangen waren. Er akzeptiert die Autorität der Älteren
und deren Ideologie. Er betont mehrfach, dass er das tatsächlich damals
für richtig gehalten habe, was er aus heutiger Perspektive selbst für
begründenswert hält. Im Gegensatz zu heute sei er damals noch
nicht so weit gewesen, sich eine eigene Meinung zu bilden: „War ja
noch nicht soweit, war ja noch nicht zu erreichen des Ding, noch nich, war
nich jeplant, was man selber für richtig hält.“
In dieser Szene herrschte das Selbstbild, Opfer gesellschaftlicher Prozesse
zu sein und ihm wurde gesagt, dass die Ausländer daran schuld seien.
Er stimmt dieser Interpretation wie selbstverständlich zu, obwohl er
in mehrfacher Hinsicht gegenüber seinen Kumpels privilegiert ist. So
hat sein Vater im Gegensatz zu den anderen nicht seinen Job verloren und
er erlebt zuhause im Gegensatz zu seinen Kumpels keine Einschränkung
durch eine harte Grenzziehung. Wenn seine Kumpels um 21.00 Uhr von der Disco
zurücksein mussten, so hat sein Vater noch nicht einmal was gesagt,
wenn er um 24.00 Uhr nach Hause kam. „Hausarrest oder sowas, wie andere
kannt ich überhaupt nich“
Dieser Zusammenhang macht die ambivalente Position von Harry zu dieser Zeit
am deutlichsten. Er lebt in zwei Welten, die sich nicht nur unterscheiden,
sondern in bestimmten Regeln sogar gegenseitig ausschließen. In der
einen Welt ist die geregelte Arbeit ein hoher Wert und er muss sich mit
dem Druck des Vaters auseinandersetzen, etwas in diese Richtung zu tun und
in der anderen Welt ist schon die geregelte Arbeit des Vaters ein Integrationshemmnis.
Die Kumpels leiden unter den Sanktionen der Eltern, während er eher
klare Strukturen vermisst. Er hat das Verhalten seiner Eltern nie verstanden
und so kommt es über diesen Zusammenhang zu einem offenen Konflikt
zwischen den beiden Welten. Eltern und Kumpels
Er berichtet von dem Aufeinandertreffen der zwei Welten an zwei Stellen
im Interview aus verschiedenen, aber ähnlichen Perspektiven. Zum einen
diskutiert er so die positiven und negativen Seiten des aus seiner Sicht
lockeren Erziehungsstils vor allem seines Vaters. Wie schon in der Vorwendezeit
ist er in dieser Frage ambivalent: „eigentlich“ sei es für
ihn gut gewesen, „aber vielleicht hätt’s nich so sein sollen.“
Es stehen sich hier zwei Perspektiven gegenüber, einerseits die Sichtweise
von Harry, der einen konkreten Nutzen aus dem Umgang zieht, zum anderen
die Sichtweise eines außenstehenden Analysanden, der abstrakt beschreibt,
welche Folgen der Erziehungsstil des laissez faire hat. Entsprechend mischen
sich seine Erzählperspektiven. Wenn 'man‘ nicht klar sanktioniert
wird, nutzt 'man‘ die Situation „eben immer mehr“ voll
aus. Als seine Eltern in den Urlaub gefahren waren, habe er zuhause Partys
gefeiert und das Haus unaufgeräumt mit den Kumpels verlassen. Um die
Grenzüberschreitung noch zu verdeutlichen führt er aus, dass die
Bude auf dem Kopf gestanden hätte und der Fernseher „vielleicht“
noch geklaut gewesen sei. Rätselhaft war ihm gewesen, dass der Vater
dazu kaum etwas gesagt hatte.
An einer anderen Stelle des Interviews berichtet er von seinen vermeintlichen
Grenzüberschreitungen in Zusammenhang mit der Ablehnung durch die Bundeswehr.
Er war sich völlig sicher, dass er eine Laufbahn beim Militär
machen konnte und plötzlich kam der ablehnende Bescheid von der Bundeswehr.
Im Anschluss an dieses Segment verweist er als Reaktion auf diesen Bruch,
dass er eine Zeit lang versucht habe, sein eigenes Leben zu leben, unabhängig
davon, ob seine Eltern damit einverstanden waren oder nicht. So nimmt er
einfach das Wohnzimmer mit seinen Kumpels in Beschlag und beobachtet seine
Eltern. Diese verlassen den Raum. Er wird immer rücksichtsloser, was
aber auch nicht zu der erwarteten Reaktion der Eltern führt. Jetzt
hat er aber für die erlebte Resonanzlosigkeit der Eltern eine eindeutige
Erklärung: „für die bin ich eben völlig gleichgültig,
weil die sagen zu mir kaum noch was.“
Durch die Integration in die Szene hat er so viel Distanz zu den Eltern
aufbauen können, dass er sich seinen Unmut über sie zugestehen
kann und entsprechende Konsequenzen zieht. Er reißt von Zuhause aus
und geht zu seinen Kumpels. So zieht er in der Beziehung zu den Eltern eine
deutliche Grenze und gibt ihr so eine Struktur, die er lange vermisst hat.
Da jetzt der Bruch mit dem von der Gesellschaft privilegierten Vater offen
vollzogen ist, ist auch die Position von Harry in der rechten Skinszene
eindeutiger.
Seine Charakterisierung dieser Szene ist von zwei widersprüchlichen
Tendenzen geprägt. Einerseits war er damals dort integriert und vertrat
auch die entsprechende Ideologie. Andererseits distanziert er sich inzwischen
vom Rechtssein und will dem Bild entgegenwirken, Skins seien rechts. Dies
hat zur Folge, dass, obwohl er sich mehrere Jahre in dieser Szene bewegte,
er nur wenige Informationen über sein Leben dort preisgibt. Das narrative
Erzählschema wird immer wieder durch Argumentationen unterbrochen.
Dann versucht er sein damaliges Verhalten aus seiner damaligen Situation
heraus zu erklären.
Er distanziert sich von einem Teil seines Verhaltens, bewertet die Zeit
aber trotzdem positiv. Bezogen auf diese Zeit distanziert er sich von der
rechten Ideologie, dem 'rumgrölen‘, 'rumlaufen‘, 'einfach
sinnlos da, Leute vor den Kopf hauen‘, dem starken Alkoholkonsum und
der Randale nach dem Fußballspiel. Er habe sich ein „bisschen
rumgeprügelt, also auch Anzeige jekriegt wegen Körperverletzung,
und so weiter und so fort“. Es ist nicht klar, welchen Stellenwert
die einzelnen Delikte tatsächlich in seinem damaligen Leben hatten,
aber weder die Gewalttaten, noch die Anzeige scheinen für ihn begründenswert.
Es sind in dieser Szene normale Begebenheiten.
Außerhalb der Szene hat Harry noch zwei Personen, die ihm wichtig
sind und die ihn wegen seines Lebensstiles kritisieren. Zum einen ist da
ein langjähriger Freund, mit dem er schon zur Schulzeit befreundet
war. „Mit dem war ich also besonders viel, bloß eben, er baut
keene Scheiße, das is das Problem.“ Selbst wenn die Freundschaft
auch in dieser Zeit besteht, so ist die Kritik des Freundes an Harrys 'Scheiße
bauen‘ ein Distanz schaffender Faktor, der später zum Bruch führt.
Zum anderen hatte Harry zu dieser Zeit auch eine Freundin, mit der er vom
16. bis zum 19. Lebensjahr zusammen war. Die Beziehung verlief also ungefähr
zeitgleich mit seiner Zugehörigkeit zur rechten Skinszene. Er betont
aber ausdrücklich, dass diese Freundin aus einer 'ganz anderen Gruppe‘
kam, die 'gar nichts mit seiner Gruppe zu tun hatte‘. Diese Gruppe
wird von ihm als „ganz normal“ gekennzeichnet. Trotzdem bringt
er die Freundin in Zusammenhang mit seiner Integration in die rechte Skinszene:
Er wollte damals nur einen Tag mit den Kumpels rumziehen und ein Jahr ist
daraus geworden, „weil, ich hab damals och meine Freundin kennengelernt“.
Er verbringt die Zeit wahrscheinlich in der nahegelegenen Großstadt
und kann sie am Anfang auch genießen. Seine Freundin ist ebenfalls
von Zuhause weggegangen und hat eine Zeit lang im Orientierungshaus für
obdachlose Kinder in der Großstadt L gewohnt. Da er schon zu alt ist,
kann Harry selbst nicht lange im Orientierungshaus wohnen.
Nach einiger Zeit treten die Konflikte zwischen Harry und der Freundin bzw.
zwischen den beiden Lebenswelten in den Vordergrund. Wenn er besoffen war
und sie ihn besuchte, hätten sie sich nur noch gestritten. Sie lebte
mittlerweile wieder bei ihren Eltern und scheint die Trennung mit ihm forciert
zu haben, „was ich nachher och einjesehen habe, es jeht nicht mehr
so!“. Ausgrenzung in der Phase der Differenzierung
und Distanzierung
Die Bedeutung der Ausgrenzung für Harry hat sich seit der Wende eklatant
verändert. Damals gab es eine nicht unproblematische, aber selbstverständliche
Struktur, in der Ausgrenzungsprozesse, mit den Ressourcen und Regeln der
Struktur bearbeitet wurden. Mit der Wende muss er sich nicht nur durch Anpassung
integrieren, sondern auch entscheiden, wo er sich verortet. Diese Entscheidung
wird ihm aus seiner Sicht zu einem großen Teil durch die Ablehnung
von der Bundeswehr abgenommen. Hier erfährt er eine ganz konkrete Ausgrenzung
durch die neuen staatlichen Institutionen. Die Versuche des Vaters, ihn
in eine berufliche Laufbahn zu integrieren, schlagen fehl. Die Lehre ist
nicht in der Lage, seine Erwartungen und seine neuen Bedürfnisse zu
befriedigen. Die Identifizierung der konturlosen Eltern mit dem neuen System
führt zur Distanzierung und somit zu einem Ablösungsprozess von
denselben. Er gehört demgegenüber mit den rechten Skins zu den
Outsidern, den Verlierern des neuen Systems.
Die Wende hat so aus einem angepassten Jugendlichen mit einer konventionellen
Lebensplanung eine vom System entwurzelte Person gemacht, die entsprechend
ihrer neuen gesellschaftlichen Position nach den Regeln der Outsider lebt.
Beim Erlernen dieser neuen Rolle ist ihm seine Anpassungsfähigkeit
wieder sehr behilflich. Ohne die Inhalte zu hinterfragen, übernimmt
er die Ideologie der älteren Autoritäten in der rechten Szene.
Ausgrenzung ist für ihn zu dieser Zeit eindeutig ein äußerer
Konflikt: ein Konflikt zwischen den Protagonisten und Gewinnern im neuen
System und den Verlierern. Wie es zu dieser Kluft kommen konnte und warum
er auf der Seite der Verlierer steht, ist ihm nicht klar. Dass die Verlierer
aber für ihr Verhalten sanktioniert werden, scheint nicht gesondert
erklärt werden zu müssen. Wie das abweichende Verhalten selbst
gehören die Sanktionen zu seiner Welt.
Aus diesem Schema fallen sowohl sein Freund als auch seine Freundin heraus.
Wichtig ist dabei v.a. seine Freundin, die wie er auf der Seite der Verlierer
steht, ihn aber durchaus wegen seiner Lebensweise kritisieren kann und sich
von ihm distanziert. Das heißt, auch diese Welt verliert ihre Selbstverständlichkeit,
ist hinterfragbar. |
Entgrenzung |
Die Jahre in der rechten Szene waren für Harry sehr wichtig. Hier hatte
er eine Struktur vorgefunden, in die er sich aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit
schnell integrieren konnte und deren Ideologie eine Erklärung für
die ihm ansonsten unverständliche Situation nach der Wende bot, „dass
die Ausländer dran Schuld sind“. Nicht zuletzt durch die Distanzierung
von den Eltern und den gesellschaftlichen Institutionen konnte er sich auch
klarer in der Gesellschaft verorten. Im zweiten Abschnitt seiner Interimsphase
löst sich Harry von der rechten Szene, fühlt sich aber weiterhin
den Skinheads verbunden. Harry der Skin
Um die beiden Szenen genauer charakterisieren zu können, fehlen vor
allem in Bezug auf die alte Szene Informationen. Zur Szene dazuzugehören
scheint für ihn vor allem die Bedeutung gehabt zu haben, sich an den
Regeln bekannter und älterer Personen zu orientieren. Auch wenn er
sich eindeutig hier verortet, so hatte er doch immer auch außerhalb
der Szene Kontakte. Sein langjähriger Freund, der 'keine Scheiße
baut‘ und seine Freundin, die aus einer 'ganz normalen Gruppe‘
kommt sind dafür Beispiele. Diese Kontakte ermöglichten ihm einen
Blick auf die Welt jenseits der Szenegrenze, ohne sich gleich wieder in
der abgelehnten Welt der Eltern zu befinden. Die 'In-group‘ Ausrichtung
ist nicht ausschließlich.
Dies führt aber auch dazu, dass die Eingrenzung der rechten Szene selbst
zur Disposition gestellt wird. Sie kann als etwas Trennendes empfunden werden
und zwar zwischen Personen und Lebensweisen, die ihm wichtig sind.
Dieser Vorgang hängt für ihn mit dem 'älter werden‘
zusammen. Es ist ein Prozess von der Orientierung an anderen hin zu einer
Orientierung an eigene Bedürfnisse. Eine daraus resultierende Wende
in seiner Beziehung zur rechten Szene datiert er auf „18 oder so“.
Damals war er auf einem Ska Konzert in Brüssel und „da fiel mir
das erst mal so auf, dass da ebend, dass es och andere Skins gab, nich nur
rechte.“ Er lernte linke Skins kennen, Skins, die gegen Rassismus
waren und „ebend normale Menschen“, die „Hauptsache Party“
haben wollten und denen ansonsten egal war, was die anderen so machten.
Für Harry tat sich eine neue Welt auf, eine Welt, in der es vor allem
um das gemeinsame Musikerlebnis geht, um Spaß haben und Partys feiern.
Die politische Ausrichtung ist in dieser Welt nur eine störende Trennlinie
zwischen Leuten, die ein gemeinsames Interesse haben. Die bei den rechten
Skins angestrebte und erlebte Gemeinschaft kann so weiter ausgedehnt werden.
Bei dieser Gemeinschaft steht aber nicht mehr die Distanzierung von anderen
Welten als konstituierendes Merkmal im Vordergrund, sondern die möglichst
breite Einschlussfähigkeit der Musik und des Bedürfnisses nach
Gemeinschaft und Spaß.
Klare Grenzen scheinen diesem Bild von Gemeinschaft prinzipiell entgegenzustehen.
Nach einer Phase der Distanzierung versucht er nun Grenzen, die seinen Bedürfnissen
entgegenstehen zu relativieren und getrennte Welten zusammenzuführen.
Ihm kommt dabei seine Kontaktfreudigkeit zu Gute. Er kennt nicht nur rechte,
linke und unpolitische Skins, sondern auch viele Punks. So spricht er auch
von der „Punk- und Skinszene“, in der er sich bewegt. Er unterhält
sich aber auch mit „irgendwelche Autonome“ bei einem Bier und
er hat „viele Freunde“ aus Mozambique.
Auch die äußeren Merkmale der verschiedenen Jugendkulturen verlieren
für ihn ihre trennende Bedeutung, so kann er durchaus bei einem Irokesenschnitt
zugestehen, dass das bei 'manchen echt gut aussieht‘. Punks „sind
och keene politischen Leute die die gleiche Musik hören wie ich hören,
Party machen ist och alles [...]“.
Sein Traum ist es, dass die verschiedenen Szenen mehr zusammengehen. Um
dies zu verdeutlichen verweist er auf das Lied von Jimmy Pursey: 'If the
kids are united‘ und fasst es so zusammen: „Wenn alle zusammenhalten
wird’s allen gutgehen, alles wird gut.“
Zeitweise wird diese Gemeinschaft auf Partys und Konzerten erreicht. Er
spricht sich selber Mut zu wenn er sagt: „Zwischen linken und rechten
Skinheads nich unbedingt aber ne kleene Verbindung gibt es da auch, hundert
Prozent. Spätestens beim Ska - Konzert kommen die alle mal irgendwann
zusammen.“ Fast resigniert fügt er allerdings hinzu: „Da
gibt es keene Randale, und wenn ich draußen auf der Straße sitze
da sieht’s schon wieder ganz anders aus. [...] Das kotzt mich dann
eigentlich schon an.“ Wahres Skinsein und das
falsche Bild
Dieser Prozess des 'älter werdens‘ hat für ihn weitreichende
Konsequenzen. Es ist nicht mehr möglich, sich einfach vorgegebenen
Strukturen anzupassen und sich abhängig von dem zu machen, was ihm
die Älteren sagen. Entsprechend seiner eigenen Struktur verändert
sich auch die Struktur der Szene. Sie besteht für ihn jetzt aus einen
lockeren Zusammenhang vieler Freunde. Er nennt dabei bis zu 300 Personen
zu denen er Skins und Punks zählt. Seiner Schilderung zur Folge treffen
sich täglich ca. 20 – 30 dieser Leute an verschiedenen Orten
der Stadt, so z.B. im Park oder auf dem Marktplatz, trinken Bier, hören
Musik und haben „schön viel Spaß“ und ab und zu gehen
sie auf Konzerte von Skin- oder Punkbands. Es scheint eine harmonische Szene
zu sein und es wundert ihn selbst, dass, obwohl sich nun täglich so
viele treffen, sie „keine Scheiße jebaut“ hätten,
abgesehen von der lauten Musik.
Im Gegensatz zur rechten Szene würden auch die Mädchen voll akzeptiert.
Neben diesen sehr weiten Freundeskreis gibt es aber auch noch den engen
Freundeskreis, „een ganz kleenen, einen Kern“ von fünf
bis sechs Personen. Dieser Kreis trifft sich ohne die Anderen, trinkt Bier,
unterhält sich und sieht Musikvideos. Dies sind die Personen, die „genauso
denken wie ich“ und dementsprechend keine Randale im Fußballstadion
oder auf der Straße machen.
Er versteht sich weiterhin als Skin, steht auch noch zu den alten Freunden,
distanziert sich aber vehement von dem Identitätsmerkmal vergangener
Jahre, der Politik. Entsprechend verändert sich auch seine Definition
vom Skinsein.
Für ihn ist das eigentliche Skinsein so etwas wie eine multikulturelle
Musikszene, in der die gemeinsame Party im Zentrum steht. Dies leitet er
historisch ab, indem er auf die Wurzeln in Südengland verweist, wo
Schwarze die Skinheadmusik, den Ska erstmal populär gemacht hätten.
„Das versteh ich nicht, wenn sich einer die Haare abrasiert und ein
T-Shirt anzieht, 'ich bin stolz Deutscher zu sein‘, und sich dann
als Skinhead ausgibt.“ Damit lehnt er aber nicht den rechten Skin
als Person ab, sondern nur dessen Art zu denken. „Eigentlich [seien
sie] ganz cool drauf“, würden aber „total falsch denken“.
Wie bei seinem eigenen Rechtssein erklärt er sich diesen Widerspruch
mit deren persönlicher Unreife, die würden halt kurze Haare haben
und „Sieg Heil“ schreien, weil „der große Bruder“
dies so vorgeben würde.
Politik muss allerdings von 'Gedankengut‘ unterschieden werden, das
er durchaus weiter behalten will. So habe er eine „Vorliebe für
den zweiten Weltkrieg“. Politisch sein ist für ihn immer mit
konkreter Auseinandersetzung verbunden und damit geht es mit der Suche nach
Randale und dem Stress machen zusammen.
Die Welt der Skins, in der sich Harry bewegt, sieht also grob wie folgt
aus. Um den „Zusammenhalt und die Musik“ gruppieren sich unterschiedliche
Jugendliche mit ähnlichen äußeren Merkmalen, die ihren Spaß
haben wollen.Da Punks eine ähnliche Art zu Leben haben gibt es keine
prinzipielle Trennung zwischen den verschiedenen Gruppen. Diese Jugendlichen
treffen sich täglich, trinken Alkohol, nehmen teilweise Drogen, hören
ihre Musik und wollen in Ruhe ihre Gemeinschaft genießen. Interne
Spannung gibt es dann, wenn Politik mit ins Spiel kommt. Dann steht nicht
mehr die „Ruhe“, sondern der „Stress“ im Vordergrund,
dann wird die von ihm angestrebte Gemeinschaft von Auseinandersetzungen
und „Randale“ verdrängt.
Seine veränderte Identität hat aber nicht nur Auswirkungen auf
sein Leben in der Szene, sondern auch Konsequenzen in Bezug auf die Welt
der Eltern bzw. der Gesellschaft. Als er noch in der rechten Szene war,
standen sich zwei sich gegenseitig ausschließende Welten gegenüber.
Der Konflikt drückte sich auf der einen Seite durch das Randalieren
und auf der anderen Seite durch entsprechende Sanktionen aus. Es war die
Zeit des 'Stresses‘, für Ruhe war nur wenig Raum. Das Politische
steht somit nicht nur für das Trennende innerhalb der Szene, sondern
auch für den Konflikt mit der Öffentlichkeit. Um sein erklärtes
Ziel, nämlich „in Ruhe“ als Skin zu leben, zu erreichen,
benötigt Harry aber so etwas wie eine friedliche Koexistenz. Dies ist
ein weiterer Grund, sich nicht politisch zu betätigen, das heißt,
nicht zu randalieren. Trotz seiner Bemühungen in dieser Richtung ist
es ihm nicht möglich, den Konflikt zwischen den beiden Parteien zu
nivellieren.
Der Grund liegt darin, dass Teile der Szene und die Öffentlichkeit
auf der Basis 'falscher Bilder‘ vom Skinsein, diese Auseinandersetzung
fortführen. Beide Seiten halten an dem Bild des rechten, randalierenden
Skins fest und lassen somit die Beziehung nicht zu Ruhe kommen. Trotz seiner
veränderten Verhaltensweise sieht er sich so weiterhin als Skin sanktioniert.
Diese Ausgrenzungserfahrungen korrespondieren jetzt nicht mehr mit einem
tatsächlichen Verhalten, sondern mit einem Stigma, das ihn auf den
'bösen bösen Faschisten‘ und den Randalierer festschreibt.
Für diesen Zusammenhang finden sich zwei Beispiele. Er habe auch viele
Freunde aus Mozambique, und als er sich mit einem von ihnen unterhalten
habe, sei „so’hn alter Opa angesprungen und hat mich da angeschrien
ich solle den in Ruhe lassen.“ „Die sehn doch bloß, das
is ein Skinhead, das ist ein Neonazi.“ Er habe den Mann nur angegrinst
und nicht gewusst, was er sagen sollte. Das sei eben das von den Medien
verbreitete „falsche Bild“.
Ein anderes Beispiel bezieht sich auf die Sicherheitsmaßnahmen beim
Fußballspiel. Aufgrund seines Aussehens würde er zum Sondereingang
geschickt und dort von oben bis unten abgetastet. Außerdem müsse
er vorm Spiel seine Stiefel in einen Schrank einschließen und barfuss
ins Stadion gehen, „bloß weil du kurze Haare hast, ist doch
Scheiße.“ Auch wenn er sich ärgert, so versucht er doch
diesen Problemen aus den Weg zu gehen, indem er sich z.B. von den Hools
distanziert und in „ganz normalen Klamotten“ zum Spiel kommt.
Harry möchte also voll in die Szene integriert sein, aber gleichzeitig
auch ein harmonisches Verhältnis zur Umgebung haben. Er kommt aus einer
rechten Gruppierung, will diese Freunde behalten, lehnt aber gleichzeitig
deren Politik ab. Als Mitglied einer stark von Ausgrenzungsprozessen bestimmten
Szene will er gleichzeitig die Konflikte nach Außen nivellieren. Dies
ist ein Spannungsfeld, das viel mehr von seiner Person verlangt als noch
die eindeutige Zuordnung zur rechten Szene und die Abgrenzung zu den Eltern.
Annäherung an die Eltern
Als sich im Alter von 19 Jahren seine Freundin von ihm trennt, ist Harry
klar, dass er Konsequenzen ziehen muss. Er zieht zu einem engen Freund in
dessen Wohnung. Indem er weniger trinkt und fast keine Drogen mehr nimmt,
distanziert er sich nicht nur räumlich von der Szene, sondern auch
in seiner Lebensweise.
Er nähert sich in dieser Zeit der Welt der Eltern wieder an. So habe
er sich „sogar um Arbeit bemüht“, sei auf dem Arbeitsamt
gewesen und habe in einer 'Transportfirma‘ gearbeitet. Er habe 'sein
Geld‘ verdient und das sei eine „eigentlich janz jute Zeit“
gewesen. Die Annäherung ging sogar so weit, dass er sich sein Bedürfnis
nach Nähe zu den Eltern eingestehen kann. Weihnachten hatte er schon
in Bezug auf die Vorwendezeit als Fest geschildert, an dem er alles bekommen
habe, was er wollte. Seitdem er in der Szene war, verbrachte er Weihnachten
nicht mehr zuhause. In diesem Jahr aber habe er Heiligabend „echt
vermisst“. Harry ist aber noch nicht so weit, seinen Eltern diesen
Wunsch nach Nähe einzugestehen. Er hat „och keen Mut“ gehabt,
bei seinen Eltern anzurufen, obwohl er nur 10 Kilometer von ihnen entfernt
war. Gleichzeitig wird die Annäherung noch durch die bestehende Beziehung
zu den Kumpeln erschwert. Ihnen fühlt er sich immer noch so weit verpflichtet,
dass er nicht nach Hause gegangen ist, obwohl seine Eltern anscheinend nichts
dagegen gehabt hätten.
So feiert er in einer Anlaufstelle mit anderen Straßenkindern „ne
kleene Weihnachtsfeier“, „war eigentlich och relativ jut.“
Er steht zu diesem Zeitpunkt zwischen beiden Welten, noch ist er in der
Szene verwurzelt, gleichzeitig versucht er sich der Welt der Eltern anzunähern.
Beide Welten behalten aber ihren sich gegenseitig ausschließenden
Charakter.
Kurz nach Weihnachten kommt er aufgrund der Anzeige wegen der Körperverletzung
in U-Haft. Wie schon die Tat selbst, scheinen die Inhaftierung und die Anzeige
kaum erwähnenswert, die Gerichtsverhandlung kommt in der Erzählung
gar nicht vor.
Trotzdem markiert diese Haft einen weiteren Wendepunkt in seiner Biographie.
Er ist inzwischen 20 Jahre alt und als er im Februar aus der Haft entlassen
wird, geht er nach Hause zu seinen Eltern, sagt ihnen, dass er im Knast
war und 'was so anliegt‘. Nach einer langen Zeit der Distanz hat er
seinen Eltern gegenüber nun eine Position gewonnen, die es ihm ermöglicht,
sich auch wieder offen anzunähern.
Im Gegensatz zum bisherigen Bild der Eltern, wird deren Reaktion als sehr
eindeutig dargestellt: „Die haben sich mächtig gefreut“.
Sie erscheinen als konkrete Personen mit eindeutigem Interesse an der Beziehung
zu Harry. Seine ambivalente Beschreibung und das konturlose Bild der Eltern
haben hier keine Bedeutung mehr. Während sich sein Verhältnis
zur Szene ausdifferenziert und von Widersprüchen geprägt ist,
gewinnt seine Beziehung zu den Eltern an Eindeutigkeit. Diese signalisieren
jetzt auch im Gegensatz zum früheren Desinteresse ein klares Nähebedürfnis
seiner Person gegenüber.
Er befindet sich jetzt in einer Position, die ihm erlaubt, mit seinen Eltern
über die Beziehung zwischen sich und ihnen zu verhandeln. Als Verhandlungspartnerin
wird zum erstenmal die Mutter als Einzelperson genannt. Er kann zuhause
wohnen, macht aber gleich seine Grenze ihrer Person gegenüber deutlich:
„also mit ihr möchte ich nich, um Gottes Willen, nicht mehr rumrennen.“
Er stellt Bedingungen, unter denen er bereit ist, sich verstärkt an
der Welt der Eltern zu orientieren.
Diese Übereinkunft scheint für ihn auch „ne Zeitlang“
gut gewesen zu sein, bis er sich wieder stärker in die konkurrierende
Welt der Kumpels integriert. Diese neue Zuwendung geht diesmal allerdings
nicht mit einer bewussten Distanzierung zu den Eltern einher. Ganz im Gegenteil,
auch in der Erzählung der letzten Monate bis zur zweiten Inhaftierung
im Spätsommer orientiert er sich meist an der Welt der Eltern.
So erscheint die erneute Eingliederung in die Szene als eine Art Rückfall.
Während er noch in der vorherigen Phase seine Kontaktfreudigkeit und
Anpassungsfähigkeit als positive Merkmale der Integration hervorhebt,
spricht er jetzt von der Kehrseite dieser Eigenschaften: „also, ich
bin leicht zu verleiten, würd ich mich mal so einschätzen.“
Es ist eine Schwäche seiner Persönlichkeit, dass er wieder dabei
ist, dass „der ganze Zirkus wieder los“ ging. Er wurde wieder
„janz runter“ gebracht, was letztlich zur zweiten Inhaftierung
führte. Er spricht hier wieder aus der Perspektive des Harry, der vernünftig
von außen analysierend entscheidet, was für ihn gut ist und was
nicht.
In diesem Zusammenhang berichtet er auch von der Straftat, die er nach der
erneuten Integration in die Skinszene begangen hat. Diese Erzählung
unterscheidet sich wesentlich von der Erwähnung der ersten Gewaltstraftat.
Die damalige Körperverletzung führt er nur ganz kurz als Beleg
seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene an. Gleichzeitig genügt
ihm diese Zugehörigkeit als Erklärung der Gewalttat. Gewaltstraftaten
und die Zugehörigkeit in der rechten Skinheadszene sind für ihn
ein selbstverständliches Paar.
Aber gerade auf diese Konstellation kann er sich jetzt nicht mehr berufen.
Er hat inzwischen eine Ich-Identität entwickelt und seine Einstellung
zur rechten Szene und zur Gewalt grundsätzlich geändert. Er kann
nicht mehr einfach auf die Gruppe verweisen, sondern muss auch seine eigene
Person und Verantwortung thematisieren.
Einerseits nimmt er für sich in Anspruch, sich auch gegen die Mehrheit
der Kumpels gegen Randale auszusprechen und gleichzeitig gesteht er zu,
gemeinsam mit anderen eine räuberische Erpressung begangen zu haben.
Dieser Widerspruch ist ihm durchaus bewusst und er entwickelt mehrere Theorien,
die seine Verantwortlichkeit relativieren.
So führt er in einer triebtheoretischen Erklärung gerade seine
lange Gewaltabstinenz als Begründung an. Er habe fast zweieinhalb Jahre
keine Straftat begangen und in dieser Zeit 'staue‘ sich einiges im
„Unterbewusstsein“ auf. Wenn er dann einen Blackout habe, würde
sich „da die ganze Energie und der ganze Frust“ 'entladen‘
und er würde 'voll ausflippen‘. Seine Gewalttat ist so Ausdruck
einer Gesetzmäßigkeit, die er unter bestimmten Bedingungen nicht
beeinflussen oder gar verhindern kann. Er kann nur durch Alkohol- und Drogenabstinenz
verhindern, dass er einen Blackout hat, aber das würde auch nur den
inneren Druck erhöhen.
Die Verbindung zum Unbewussten wird noch dadurch verstärkt, dass er
vorgibt, sich an die Tat nicht erinnern zu können. In dieser Argumentation
stellt sich die Tat als Ausdruck des Konfliktes zwischen dem Ich und dem
Unbewussten dar. Er wird für etwas verantwortlich gemacht, das er zwar
getan hat, wobei er letztlich aber nur passiv war. Entsprechend beginnt
er diese Passage folgendermaßen: „Mir passiert eben sowas wie
ebend jetzt was ich gemacht habe nur [...]“.
Die andere Argumentation entlastet die eigene Verantwortung nicht durch
eine unkontrollierbare innere Instanz, sondern durch äußere Einflüsse.
Neben der Kontaktfreudigkeit und der Anpassungsfähigkeit erwähnt
er die leichte Verleitbarkeit als dritte Konstante seiner Persönlichkeit.
Wenn ihm jemand sagt, er könne jemanden nicht leiden, den müssten
sie jetzt umhauen, dann „denk ich nich lange groß drüber
nach“. Dies gilt wiederum im verstärkten Maße, wenn er
unter Alkohol steht. So reduziert sich letztlich wieder seine Verantwortung
auf den Konsum von Alkohol und Drogen.
Hier will er in Zukunft besser aufpassen, weil „das nächste Mal
wie gesagt schlag ich eenen tot und kriege 25 Jahre Knast und weeß
nich warum oder so“. Er möchte nicht für etwas zur Verantwortung
gezogen werden, was er nicht unter Kontrolle hat. Ihn beängstigt, dass
er sich an die Tat nicht erinnern kann und so auf das angewiesen ist, was
ihm in der Anklage gesagt wird. Er bereut die Tat nicht aus evtl. Schuldgefühlen
dem Opfer gegenüber, sondern weil sie für ihn keine „Punkte“
bringt und sich aufgrund der Sanktion negativ auf sein Leben auswirkt.
Persönliche Unreife, wie zur Zeit in der rechten Szene, führt
er jetzt nicht an. Grundsätzlich sieht er sich als verantwortlich handelnde
Person, aber aufgrund des Blackouts durch Alkohol und LSD sieht er gute
Chancen für eine „Tatverminderung“.
Neben dieser Straftat, die sich schädigend auf sein Leben auswirkt,
spricht er in Bezug auf die Zeit vor der zweiten Inhaftierung zum ersten
Mal von grundsätzlichen Nachteilen seines Lebens in der Szene. Am Anfang
sei dies Leben mit Drogen, Saufen, Partys und Konzerten seine „volle
Erfüllung“ gewesen. Über die lange Zeit habe er aber „7
oder 8 Kilo abjenommen“ und es habe ihn „gesundheitlich total
fertig gemacht“.
Positiv hebt er an dieser Zeit und dem Leben in der Szene nur seine Beziehung
zur neuen Freundin hervor. Im Gegensatz zur alten Freundin identifiziert
sie sich wie er voll mit dem Skinsein. Sie ist ein „Skinheadgirl“,
„hat och kurze Haare und trägt Stiefel alles so, genau wie ich.“
Sie trinkt und raucht zwar nicht, geht aber wie er gern auf Konzerte und
ist auch für Spaß zu haben. Ausgrenzung
in der Phase der Entgrenzung
Nach der Phase der Distanzierung und klaren Grenzziehung stehen in dieser
Phase die Harmonisierungstendenzen im Vordergrund. Harry entwickelt eine
Ich-Identität und kann klar ausdrücken, welche seine Bedürfnisse
sind. Nicht mehr die vorgegebene Struktur der rechten Szene steht im Vordergrund,
sondern die seiner eigenen Person. Er möchte mit anderen Jugendlichen
in Ruhe die Gemeinschaft genießen können. Durch diese individuelle
Abgrenzung seiner Person von der Struktur der Szene gewinnt er eine Perspektive,
aus der die gegebenen Grenzen eher störend wirken.
Harrys primäre Grenzerfahrung in dieser Zeit ist nicht die Ausgrenzung.
Vielmehr bekommt er deutlich den trennenden Charakter einer jeden Grenze
zu spüren. Die Grenzen stehen somit als solche seinem Konzept von Gemeinschaft
und Harmonie entgegen. Sein Ziel ist nicht die Differenzierung der verschiedenen
Jugendszenen, sondern die Vereinigung aller Jugendlichen. Wenn alle Grenzen
und Konflikte in der Szene abgeschafft sind 'wird alles gut‘. Aber
auch die eindeutige Abgrenzung zur Welt der Eltern und der Gesellschaft
wird unter der neuen Perspektive relativiert. Dieser Konflikt besteht letztlich
nur aufgrund der 'falschen Bilder‘ vom Skinsein auf beiden Seiten.
Aus seiner Perspektive spricht viel für eine Annäherung an diese
Welt. So möchte er auch eine harmonische Beziehung zu seinen Eltern.
Wo er konkrete Ausgrenzung erfährt, so z.B. vor dem Fußballstadion,
reagiert er mit Anpassung. Sie ärgert ihn zwar, aber er hat auch Verständnis.
Harry will keinen Stress, und so kommt er nicht wie früher mit den
Hools in einem Bus, sondern im Privatwagen in unauffälliger Kleidung.
|
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Die zu nutzenden Startzeichen |
Dieser Abschnitt ist im besonderen Maße von der aktuellen
Situation von Harry geprägt. Das Interview fand drei Wochen nach seiner
Inhaftierung in der U-Haft statt und eine halbe Stunde nach dem Besuch von
seiner Freundin. Diese hatte ihm bestätigt, dass sie im fünften
Monat von ihm schwanger sei.
Außerdem war einige Tage später sein Haftprüfungstermin
und er hatte sich ja auch noch zu dem Interview bereit erklärt. Harry
war also in einer außergewöhnlichen Situation, was sich vor allem
am Anfang in seiner Nervosität zeigte. Schon die Inhaftierung ist ein
Einschnitt in sein Leben. Die Information, Vater zu werden, verstärkt
diesen Eindruck noch. Beide Brüche sind für ihn Möglichkeiten,
sich tatsächlich neu zu orientieren. |
Distanz zur Szene |
Die aktuelle Inhaftierung ist sein zweiter Aufenthalt
in der U-Haft. Der erste liegt nur ungefähr ein halbes Jahr zurück
und bezog sich auf ein Gewaltdelikt, das wiederum mehrere Jahre zurücklag.
Die zweite Reaktion des Staates war also wesentlich schneller und er bezieht
sie entsprechend auf die konkrete Tat. Dieser konkrete Zusammenhang zwischen
Tat und Sanktion ist für ihn vor allem in Hinblick auf den folgenden
Haftprüfungstermin wichtig. Er versucht innerhalb der ihm bekannten
juristischen Regeln, seine Situation zu analysieren, und möglichst
günstig auszulegen. Der Aufforderungscharakter der Sanktion, die Tat
nicht zu wiederholen, hat er durchaus verstanden und akzeptiert. Ihm ist
klar, dass er in Zukunft weniger Alkohol und Drogen nehmen muss, damit sich
diese oder schlimmere Taten nicht wiederholen.
Neben diesem Zusammenhang zwischen Tat, Sanktion und geplanter Reaktion
hat der Aufenthalt in der Vollzugsanstalt aber noch eine weitergehende Bedeutung:
die faktische Trennung von der Szene, in der er sich zur Tatzeit bewegte.
Es ist aus dieser Perspektive nicht mehr die Szene, in der er viel Spaß
hatte, sondern die, die ihn 'runter brachte‘, in der er 'verleitet‘
wurde und die ihn „total fertig“ gemacht hat. Dem gegenüber
bekommt der Vollzug fast den Charakter eines Sanatoriums. Als Beleg dafür,
wie schlecht es ihm ging, berichtet er, dass er „voll jezittert“
habe, als „die mich einjeliefert haben.“
Sein Zustand kann sich aber durch die Zwangstrennung von der Szene schnell
stabilisieren: „mir jehts jetzt deutlich wieder besser, würd
ich sagen, och jetzt seelisch eigentlich.“ Was er nach der letzten
Inhaftierung aus eigener Kraft nicht geschafft hat, wird so von außen
wieder herbeigeführt. Er hat sich entsprechend der neuen Situation
eingerichtet, er hat alles was er so braucht: einen Fernseher, „ne
Kaffeemaschine, Kassettenrecorder, alles. Ich ha hier keene Probleme“.
|
Gesellschafts- und
Selbstreflexion |
Die klare Struktur des Vollzugs ist für ihn so auch
ein Freiraum, sich unabhängig von der Szene zu sehen, und die eigene
Situation zu reflektieren. Auch die Interviewsituation ist hierfür
eine gute Gelegenheit. „Man hat hier so viel Zeit hier um nachzudenken.“
Diese Zeit nutzt er und dementsprechend sind seine Bilanzierungen und Zukunftspläne
von Argumentationspassagen und Eigentheorien durchsetzt.
Die politische Wende ist ein wichtiger Bezugspunkt in seiner Reflexion.
Entsprechend geht Harry auch auf den Vergleich der Zeit vor und nach der
Wende bzw. der beiden politischen Systeme ein. Er ist zum Zeitpunkt des
Interviews nicht mehr überrumpelt von den neuen Verhältnissen,
sondern hat über mehrere Jahre Kontakt mit dem neuen System.
Distanzierter als zur Zeit kurz nach der Wende diskutiert er jetzt die Unterschiede
eher als abstrakte Rahmenbedingungen, mit denen er sich auseinandersetzen
muss. Ausgangspunkt ist für ihn die immens gestiegene Kriminalität,
die sich in der Anzahl der Jugendlichen im Gefängnis niederschlägt.
Diese Jugendlichen seien „früher alles brave Pioniere“
gewesen und er bezweifelt, dass die in der DDR straffällig geworden
wären. Kern seiner Kriminalitätstheorie ist der sinkende Respekt,
den der Staat und dessen Exekutive, die Polizei, genießt. Zu DDR-Zeiten
habe man noch „richtig Respekt“ vor der Polizei gehabt, heutzutage
„lache ich manchmal kaputt, was da für Idioten ankommen.“
Bei einer Ausweiskontrolle habe er gesagt: „komm schieb ab“
und dann seien die Polizisten auch noch gegangen. Ähnlich wie die Eltern
nach der Wende erscheinen die Polizisten konturlos und weich, nicht respektabel.
„Zu DDR-Zeiten, die hätten mir die Fresse eingehauen, hätten
mich mitgenommen wenn ich sowas gesagt hätte.“
Als Konsequenz dieser Situation sieht er die Gefahr der 'amerikanischen
Verhältnisse‘. Da herrschen in 'Bandenkriegen‘ Jugendliche
mit 'richtigen Knarren‘ über die Straße und die Polizei
muss ohnmächtig zusehen. Er fordert so indirekt ein härteres Vorgehen
auch gegen die Szene, die ihm selbst nahe gestanden hatte. Wie seine nachgiebigen
Eltern seine kriminelle Karriere ermöglichten, so ermöglicht die
weiche Polizei auch die gewalttätigen Jugendbanden. Von der Gegenüberstellung
der harten DDR-Polizei und der weichen BRD-Polizei kommt er zur grundsätzlichen
Gegenüberstellung der politischen Systeme.
Das DDR-System zeichnete sich durch Eindeutigkeit aus. Was Honecker sagte
war okay. Dies begründet er nicht mit Inhalten, die er akzeptieren
konnte, sondern allein damit, „weil es nischt anderes gab.“
Dementsprechend bemängelt er im aktuellen System nicht eine falsche
Politik, sondern die fehlende Konstanz in der Politik. So gäbe es die
Möglichkeit, dass die eine Regierung von einer anderen abgelöst
werde und Entwicklungen zurückgedreht würden, „das ist doch
alles Quatsch, das geht nicht.“
Ihn stört nicht eine bestimmte politische Ausrichtung, sondern die
politische Auseinandersetzung als solche. Er beurteilt die Systeme nach
deren Einschlussfähigkeit. Dieses Kriterium durchzieht das ganze Interview.
Inwieweit sind sie in der Lage, eine Gemeinschaft zu bilden bzw. ihn zu
integrieren. Ein Staat mit einer eindeutigen Autorität und entsprechend
harten Grenzen kann dies besser leisten als das System, mit dem er konfrontiert
ist.
Wie schon in der Skinszene wird die politische Auseinandersetzung zum Kennzeichen
der Trennung der Gemeinschaft. Von einer Gesellschaft, die sich selbst nicht
einig ist, kann er auch nicht „100% überzeugt“ sein. So
macht er keinen Hehl aus seiner Ablehnung des jetzigen Systems und seiner
Sympathie für das DDR-System.
Ihm ist dabei durchaus bewusst, dass auch das DDR-System nicht in der Lage
war, alle Personen einzuschließen, dass es damals Menschen gab, die
gegen den Staat „aufgeputscht“ haben. Er glaubt aber nicht,
dass sie das aktuelle System gewollt hätten, da sie doch „heute
noch tiefer in der Scheiße stecken“. Primär geht es ihm
aber um die Einschlussfähigkeit des Systems bezogen auf seine Person.
Ihm sei in der damaligen Zeit nichts passiert, er habe „immer zu fressen
gehabt“ und man habe ihn nicht bespitzelt. Entsprechend ist ihm auch
klar, dass es im neuen System Menschen gibt, die integriert sind, denen
es gut geht, wie z.B sein Vater. Der hat sich über die Wende gefreut,
hat seine Arbeit behalten und engagiert sich politisch in der SPD.
Gerade vor diesen 'normalen‘, integrierten Personen muss er sich mehrmals
bezüglich seiner Position außerhalb der gesellschaftlichen Normalität
rechtfertigen. So forderte ihn die alte Freundin häufig auf, seinen
Lebensstil zu ändern. Als er das nicht tat, trennte sie sich von ihm.
Ähnliches erzählt er auch von seinem alten Freund, den er
schon seit ca. zehn Jahren kennt. Dieser Freund „baut keene Scheiße“
und redet seit einiger Zeit schlecht über Harry. Seit er im Knast sei,
halte der Freund nicht mehr zu ihm.
Neben diesen Auseinandersetzungen wird aber vor allem durch den Vater Harrys
Berufslosigkeit problematisiert. Auch nach seiner eigenen Lebensplanung
wäre er schon längst im Berufsleben integriert und so ist neben
seiner Inhaftierung vor allem seine Berufslosigkeit ein Kennzeichen für
seine Position außerhalb der Normalität. „Na ja, aber wie
gesagt beruflich bin ich eben überhaupt nich weit jekommen, also, voll
auf der Strecke jeblieben, würd ich sagen.“ Die Bedeutung seiner
Person in diesem Prozeß wird von ihm aber gleich wieder relativiert:
„aber dazu sagen, es jeht vielen so.“ Als Beleg führt er
die Schulkameraden an, die nach der Wende in die alten Bundesländer
gegangen sind. Die „sind da jämmerlichst uf die Schnauze jeflogen.“
In der darauffolgenden Differenzierung muss er allerdings eingestehen, dass
die Hälfte der Personen im Lehrverhältnis steht und der Rest einen
Job hat oder studiert. Er interpretiert diese beruflichen Wege als „Abwendung
[...] weil sie keen Plan mehr hatten, was se machen sollten.“
Im Vergleich zu seinen Brüdern relativiert er die Bedeutung seiner
Person nicht mehr. Es gibt einen älteren Bruder, der eine Familie mit
vier Kindern hat und einen jüngeren Bruder. Selbst dieser Bruder macht
jetzt eine Lehre. Im Vergleich zu seinen Geschwistern, die ansonsten im
Interview kaum eine Bedeutung haben, „bin ich der Einzigste, der noch
relativ in der Luft hängt.“ Er kann sich somit auch nicht auf
ein Familienschicksal berufen.
Harry möchte Teil der gesellschaftlichen Normalität sein, sieht
sich aber selber außerhalb. Einen Teil dieser misslichen Lage erklärt
er anhand des Begriffs der „Gemeinschaft“. Hier entwickelt er
eine Theorie zu seiner Person, wenn nicht sogar zu einer ganzen Generation.
Sie betrifft die Personen, die die Wende und somit auch die Zeit vor der
Wende mitbekommen haben. Sie konnten damals noch die Gemeinschaft und den
Wegfall derselben „jenau am eigenen Leib“ erfahren. Weil viele
Jugendliche die „Gemeinschaft irgendwo doch schon vermissen“
ziehen sie sich zu „irgendwelchen Cliquen“ zusammen. Soweit
seine Theorie.
Er bewahrte die Konstanz und integrierte sich in eine Gemeinschaft mit den
DDR-Institutionen ähnlichen Strukturen. Später musste er allerdings
feststellen, dass gerade dieser Schritt ihn paradoxerweise immer weiter
von der eigentlichen Gemeinschaft, der ganzen Gesellschaft, trennte. Er
hat sich zwar in eine Gemeinschaft integriert und diese immer weiter ausgeweitet,
dabei allerdings den Anschluss an die Gemeinschaft der BRD nicht geschafft.
Entsprechend wirkt jetzt die Skinszene wie eine konkurrierende Ersatzgemeinschaft.
Diese Ersatzgemeinschaft hat den Vorteil, dass er sie zeitweise tatsächlich
als Gemeinschaft erleben kann. Dies gilt vor allem auf Partys und Konzertbesuchen.
Die Gesellschaft erscheint demgegenüber als uneinheitliches Gebilde.
Trotzdem sieht er sich jetzt mit ihr konfrontiert. Er muss ihr gegenüber
Position beziehen. Dies gilt insbesondere in der aktuellen Situation der
Inhaftierung. Die Gesellschaft hat ihn eindeutig sanktioniert und zur Integration
aufgefordert. Position beziehen heißt vor allem zu klären: wieso
ist er nicht integriert und was hat er in der Zukunft vor?
Er steht in dieser Situation als Einzelperson den gesellschaftlichen Institutionen
gegenüber. Entsprechend versucht er seine Lage aus seiner Person heraus
zu klären: „Über sowas hab ich eben nachjedacht, ich hab
immer versucht eben, och zu überlegen woran es liegen kann, warum das
so ist warum ich so bin wie ich bin.“
Diese ausdrückliche Problematisierung der eigenen Person führt
ihn zu seiner Kindheit im familiären Bereich zurück. Gemessen
an dem ihm bekannten Maßstab kann er hierzu nur sagen, dass seine
Kindheit „in Ordnung“ war, „das is jetzt alles ordentlich
verlaufen bei mir.“ Er kann den Eltern deren Erziehung nicht eindeutig
vorwerfen. Trotzdem ist ihm klar, dass die Erziehung etwas mit seiner jetzigen
Situation zu tun hat. Paradoxerweise scheinen es gerade die Aspekte zu sein,
die seine Erziehung positiv von der der Kumpels abheben, die eine ähnliche
Entwicklung wie er durchlaufen haben. Er ist materiell immer sehr gut versorgt
und nie durch harte Sanktionen eingeschränkt worden. Er hält es
zumindest für möglich, dass dies nicht nur positiv war.
Die Eltern sind für ihn aber kaum greifbar, er kann sie nicht zur Verantwortung
ziehen. Dies scheint schon deshalb zu gelten, weil er im Moment auf ihre
Unterstützung angewiesen ist. Sie halten im Gefängnis zu ihm und
versuchen sich auch konstruktiv mit ihm auseinanderzusetzen. So hören
sie ihm zu und geben ihm nicht gleich die „Schuld“. Sie „suchen
jetzt och die Fehler bei sich.“
Dieses Eingeständnis wird von ihm aber gleich wieder mit den Worten
„bloß, im Prinzip liegts daran nich“ relativiert. Dies
scheint auch der Kompromiss zu sein, mit dem er die Verantwortung der Eltern
benennen kann: Sie haben Fehler gemacht („vielleicht ein bisschen
lasch gewesen“), aber „im Prinzip“ hat es daran nicht
gelegen. Diese Regelung hat allerdings den Nachteil, dass er so seine eigene
Person nicht erklären kann. Sein ambivalentes Bild von den Eltern hängt
somit eng mit dem Unverständnis seiner eigenen Person zusammen. Er
muss eingestehen, dass er auf seine Frage, warum er so ist wie er ist, „keen
richtigen Entschluss gefunden“ habe. Die Beantwortung der Frage nach
dem 'Warum‘ bleibt offen. |
Neue und alte Bedingungen |
Kurz vor dem Interview hatte Harry nach einigen Wochen
seine Freundin im Besucherzimmer wieder gesehen und erfahren, dass sie im
fünften Monat von ihm schwanger ist. Diese Information machte auf ihn
einen tiefen Eindruck und er wirkte vor allem zu Beginn des Interviews sehr
aufgeregt und glücklich. Da er sich aber schon über Namensgebung
und Erziehungsstile Gedanken gemacht hatte, kann unterstellt werden, dass
er schon vorher zumindest Vermutungen bezüglich seiner Vaterschaft
hatte. Die zukünftige Vaterschaft ist für ihn ein wichtiger Punkt,
den er in seine Biographie integrieren muss. Er kann nicht mehr nur für
seine Person planen, sondern muss auch sein Kind mit einbeziehen, er hat
„ja denn och bald Verantwortung“.
Besonders wichtig findet er die ersten vier Lebensjahre, da „musst
Du schon seh’n dass es einigermaßen vernünftig machst.“
Da seine Freundin die Erziehung allein nicht schaffen würde, darf er
in dieser Zeit nicht im Knast sein. Und obwohl sowohl er als auch seine
Freundin ausgesprochene Skins sind, ist beiden klar, dass die Erfüllung
dieser Aufgabe in der Szene nicht möglich ist. Kindererziehung und
Szeneleben schließen sich für ihn aus: „kann mich nich
auf die Straße stellen, total besoffen, Kind im Arm, das jeht nich.“
Harry befindet sich in dieser Phase in einer ähnlichen sozialen Konstellation
wie kurz nach der Wende. So stehen sich zwei gegenseitig ausschließende
Welten gegenüber: die der Eltern bzw. der Gesellschaft und die der
Szene.
Einige Faktoren haben sich aber auch grundsätzlich geändert. So
hat er jetzt eine Freundin, die von ihm ein Kind bekommt und ihn auffordert
sich zu ändern. Hinzu kommt, dass sie sich gut mit seiner Mutter versteht
und dass sie ihn gemeinsam „in die Zange nehmen“, er solle „mit
allem aufhören“. Die Schwangerschaft und die damit zusammenhängende
Verantwortung ist in der zum Interviewzeitpunkt aktuellen Situation so dominant,
dass die Freundin durchaus zur Welt der Eltern gezählt werden kann,
auch wenn sie sich noch vor ein paar Monaten als „Skinheadgirl“
eindeutig bei der Szene verortete.
Vor einigen Jahren sah er sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, die
ihm seinen Lebensplan zerstörte und ihm deutlich zeigte, dass sie kein
Interesse an seiner Person hatte. Auch seine Eltern schienen ihm gegenüber
gleichgültig zu sein. Auf der anderen Seite gab ihm die Szene die Gemeinschaft,
die er bei den Eltern und den neuen Institutionen nicht bekam.
Diese Einschätzung hat sich sehr verändert. Die Gemeinschaft in
der Szene ist ihm immer noch wichtig, im Vordergrund steht aber der ausschließende
Charakter der Szene. Es gibt keine Möglichkeit, sich sowohl in die
Szene, als auch in die Normalität zu integrieren. Solange er in der
Szene ist, wird er 'in der Luft hängen‘. So wie ihn sein Rechtssein
an der Ausweitung der Gemeinschaft hinderte, so hindert ihn jetzt sein Skinsein
an der Integration in die Gesellschaft. Das Leben in der Szene hat so den
Charakter eines Fehltritts in seinem Leben, ist Ausdruck seiner Schwäche
und hat entsprechende gesundheitliche Folgen, von denen er sich im Gefängnis
erholen muss.
Aber auch sein Bild von der Gesellschaft und den Eltern hat sich geändert.
Er steht der Normalität immer noch sehr kritisch gegenüber, aber
gerade durch die harte Sanktion rückt sie ihm näher. Sie gewinnt
an Kontur und zeigt ihm ihre Grenzen. Darüber hinaus scheint es in
diesem Rahmen Personen zu geben, die in Ansätzen mit ihm seine Zukunft
strukturieren wollen. Auch seine Eltern zeigen unter anderem durch ihre
Besuche ein deutliches Interesse an seiner Person. Der Druck zur Integration
in diese Welt wird darüber hinaus noch durch die Freundin verstärkt,
die mit ihm das Kind aufziehen will.
Er hat die Wahl zwischen zwei Wegen: dem leichten Weg der Szene und dem
schweren Weg der gesellschaftlichen Normalität. Wenn er seinen Schwächen
nachgibt und sich verleiten lässt, wird er in der Szene leben, weiterhin
in der Luft hängen und sein Kind nicht erziehen können.
Auf der anderen Seite wird die Integration von ihm zwar erwartet, aber durch
die schlechten Strukturen der neuen Gesellschaft erschwert. Für diesen
gesellschaftlichen Weg spricht trotz der Schwierigkeiten, dass es eine langfristige
Orientierung gäbe, die Harrys Rollenbild eines Vaters entspricht.
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Die Zukunft |
Harry ist klar, dass sich beide Wege nicht vereinen lassen, er muss sich
entscheiden. Dies fällt ihm nicht leicht. Die Szene ist weit weg und
die ihn jetzt beeinflussenden Personen sprechen sich eindeutig für
den gesellschaftlichen Weg aus. Er kennt aber auch seine Sehnsucht nach
konkreter Gemeinschaft und seine Schwäche, sich leicht verleiten zu
lassen. Er würde viele Freunde verlieren und auch einen wichtigen Teil
seiner bisherigen Identität, das Skinsein. Er stellt sich konkret vor,
wie er seinen Freunden erklären soll, dass er nichts mehr mit ihnen
zu tun haben will. Er könne denen doch nicht sagen, dass sie „an
allem schuld“ seien.
Wie bei den Eltern sieht er die große Bedeutung dieser Personen für
seine jetzige Situation, schafft es aber nicht ihnen konkret Vorwürfe
zu machen. Analog zu den Eltern löst er dieses Dilemma durch die Formulierung,
dass sie „im Prinzip“ nicht „an allem schuld“ seien.
Trotzdem will er den Weg der Gesellschaft gehen und den Kontakt zu den Freunden
abbrechen. Er will sich in die Welt der Eltern und der Normalität integrieren,
will wie seine Brüder 'es schaffen‘, einen Beruf erlernen und
eine Familie gründen. Er will, wie zu DDR-Zeiten ein konventionelles
Leben führen.
Harry versucht wieder da anzuknüpfen, wo ihn die Wende aus der Bahn
geworfen hat.
Obwohl er ablehnende Bescheide von der Bundeswehr bekommen hat, überlegt
er: „Na ja, vielleicht geh ich zur Bundeswehr, wo ich schon immer
eigentlich hin wollte.“ Die Zeit zwischen der Wende und der zweiten
Inhaftierung erscheint so als zu überwindende Zeit der Schwächen.
Auf der Seite der Gesellschaft zeigt sich die Schwäche in der durch
die Wende hervorgerufenen geringen Einschlussfähigkeit.
Auf seiner Seite ist sie Ausdruck seiner leichten Verleitbarkeit. Diese
Schwächen stehen einer guten Integration entgegen. Was es in der neuen
Gesellschaft heißt, sich zu integrieren, ist ihm nicht klar. Demzufolge
greift er den Integrationsmodus wieder auf, den er in der DDR kennen gelernt
hatte. Damals wurde die Ausgrenzung dadurch überwunden, dass er sich
anpasste und sich auf der anderen Seite Personen um ihn gekümmert haben
bzw. ihn versorgten.
Obwohl er gerade beklagt, dass die Gesellschaft anders geworden ist, legt
er seiner Integration in die widersprüchliche Gesellschaft das Paar
Anpassung ? Versorgung zugrunde. Er ist bereit, sich von der ihm wichtigen
Skinszene zu distanzieren und sich so zu verhalten, wie es „der Staat
für richtig hält“, also nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt
zu kommen und zu versuchen „die Miete pünktlich zu bezahlen,
alles sowas.“ Auf der anderen Seite geht er wie vor der Wende von
einer finanziellen Versorgung durch die Eltern aus.
Aber auch mit der Gesellschaft scheint er diesen imaginären Handel
abgeschlossen zu haben: „Ich meene von mir wird och viel verlangt,
da wer ich wohl wenigstens mal een Lehrstellenplatz irgendwo verlangen dürfen.“
Er scheint mit der Gesellschaft ein Projekt der Wiedereingliederung seiner
Person durchzuführen. Aus dieser Perspektive wäre es ein Fehler
der Gesellschaft, ihn weiter einzusperren. Er gesteht seine Tat ein, „bloß
im Prinzip is das so, wenn ich mich frei entfalten soll, wie soll ich denn
das machen, wenn ich nach da nur so’n Stückchen Platz habe, nach,
is doch Quatsch.“
Bezüglich der gesellschaftlichen Seite ist er erst einmal ganz zuversichtlich
und geht davon aus, dass er in der nächsten Woche entlassen wird. Für
ihn wäre es dann „wirklich die Möglichkeit, den Start jetzt
eben wahrzunehmen.“
Starten hieße aber vor allem, dass das abstrakte Integrationsprojekt
'Anpassung gegen Versorgung’ konkret umgesetzt werden müsste.
Bei seinen Eltern scheint er sich bezüglich der Versorgung sicher zu
sein. Unsicher ist er sich der Gesellschaft und seiner Person gegenüber.
Die Gesellschaft ist ihm nicht transparent und so weiß er nicht, ob
er tatsächlich in einer Woche wieder frei, oder die nächsten Jahre
inhaftiert ist. Auch weiß er nicht, ob er eine Umschulung oder eine
Lehre angeboten bekommt oder ob er evtl. sogar zum Bund kann.
Ihm ist aber auch nicht klar, wie er sich selbst bei den Aufgaben, die vor
ihm liegen tatsächlich verhalten wird. Er muss sein Leben völlig
neu strukturieren: „ich fang jetzt wieder bei 0 an“ und er muss
die konkrete Beziehung zu den Freunden neu definieren. Er muss ihnen klar
machen, dass sie nicht an allem schuld sind, dass er weiterhin die Musik
und die Konzerte gut findet, aber diese nicht mehr mit ihnen zusammen erleben
will. Hier ist seine Schwäche der Verleitbarkeit von großer Bedeutung.
Wird er es tatsächlich schaffen, den „Begrüßungsjoint“
abzulehnen? Harry ist sich hier nicht sicher. Es gibt aber noch eine weitere
wichtige Ungewissheit.
Er hat nicht verstanden, warum er so ist, wie er ist. Ihm ist aber klar,
dass er seine Person ändern muss, um ein anderes Leben zu führen.
„Ich versuch’s zu ändern aber ob ich’s kann ist die
zweete Frage und vielleicht mit Gewalt, möchte es och ändern,
aber wie jesagt, muss ich erst seh’n wenn ich wieder draußen
bin ob’s läuft.“ Was 'es‘ ist, was er ändern
muss bleibt offen. So kann er auch keine Strategie entwickeln 'es‘
zu ändern.
Die Chancen für einen positiven Ausgang der Integration scheinen trotz
seines Willens, sich anzupassen aufgrund der Ungewissheiten eher schlecht.
Falls die Gesellschaft ihren Teil nicht beisteuert und ihn z.B. nicht demnächst
freilässt, „dann werden sie’s Resultat dann haben.“
In dem Fall werde er mehr Terror machen, als er in seinem ganzen Leben zusammen
gemacht habe. Ihm sei dann „sowieso alles egal.“
Er droht also im Falle einer weiteren Ausgrenzung, sich mit dieser Position
des Ausgegrenzten zu arrangieren und entsprechend zu verhalten. Dann würde
die Ausgrenzung als Äußerer Konflikt eskalieren. Die Distanzierung,
die er mit sechzehn vollzogen und später relativiert hatte, würde
er dann als einen endgültigen Schritt wiederholen. Für diesen
Schritt wäre die Gesellschaft verantwortlich.
Es besteht aber auch die Gefahr, dass er sich verleiten lassen würde,
„na da geht es wieder los, der ganze Scheiß.“ Er würde
die Gestaltung seines Lebens aus der Hand geben bzw. an einen Teil seiner
Persönlichkeit abgeben, den er nicht versteht. Er wäre dann in
einer Situation, die ähnlich ist wie kurz vor der Inhaftierung. Er
würde ein Leben führen, das er eigentlich nicht führen will,
ohne jemanden konkret dafür die Schuld geben zu können. Er wäre
ausgegrenzt, ohne die Grenzen genau benennen zu können. Er würde
weiterhin 'in der Luft hängen‘.
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