Aus- einander- setzung mit Gewalt
Die hier vorgestellte Untersuchung ‘Aus- einander- setzung mit Gewalt’ führt auf der Basis des Orgonomischen Funktionalismus eine neue Perspektive in die Gewaltdebatte ein.
Die gewalttätigen Jugendlichen und der gewaltthematisierende Mainstream werden in den spezifischen Aspekten und in der Interaktion charakterisiert.
Neben den Unterschieden wird aber auch die Identität beider Seiten herausgearbeitet.
Erst aufgrund dieser umfassenden Perspektive können Schritte aus der periodisch auftretenden Gewaltproblematik entwickelt werden.
Gewalttätige Ausgegrenzte
Auf der Basis autobiografische narrativer Interviews kann die Perspektive gewaltkrimineller Jugendlicher ausführlich analysiert werden.
Es werden vier 'Typen der Ausgrenzungsbearbeitung' und entsprechende Beispielbiografien präsentiert.
Ausgehend von diesen komplexen Daten wird der Weg zur zugrundeliegeden Funktion 'Ausgegrenzte Bewegung' beschrieben.
Gewaltthematisierender Mainstream
Die den Tätern gegenüberstehende Perspektive wird anhand populärer Erklärungsansätze und als selbstverständlich mittradierte Modelle thematisiert.
Insbesondere wird so der Desintegrationsansatz (Heitmeyer), die Kontrolltheorie (Hirschi), das Gewaltmonopol (Hobbes) und der Zivilisiationsprozess (Elias) analysiert.
Alle Modelle werden in ihren Eigenständigkeiten und Gegensätzen dargestellt. Darüber hinaus werden sie auf eine allen zugrunde ligende Funktion der 'Autotranszendenz' zurückgeführt.
Die Bremsung
Auf dieser Seite geht es um die Funktion, die sowohl der Perspektive der Gewalttäter als auch die des gewaltthematisierenden Mainstream zugrunde liegt.
In dieser Funktion sind sie identisch.
Diese Funktion wird insbesondere mit Hilfe verschiedener Animationen dargestellt.
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Aus- einander- setzung mit Gewalt: Gewalttätige Ausgegrenzte |
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Anhand der Hallenser Biographistudie zur Jugendgewalt wird hier die Perspektive der jugendlichen Gewalttäter charakterisiert. So werden neben der biographischen Darstellungen auch vier Typen der Ausgrenzungsbearbeitung herausgearbeitet. Anschließend werden sie auf die allen zugrundeliegenden Funktion der 'Ausgegrenzten Bewegung' zurückgeführt.
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Die Hallenser Biographiestudie zur Jugendgewalt | ![]() ![]() ![]() ![]() |
Die „Hallenser Biographiestudie zur Jugendgewalt“ wurde von Anja Meyer und mir unter der Leitung von Prof. Dieter Rössner
Mitte der 90er Jahre durchgeführt. Ziel der breit angelegten qualitativen Untersuchung
war es, einen Zugang zur Sinnwelt jugendlicher Gewalttäter zu erarbeiten,
um ihre Orientierung und die Bedeutung ihrer (gewalttätigen) Handlungen
zu verstehen. Zu diesem Zweck wurden über 50 biographisch narrative
Interviews geführt, transkribiert und analysiert. Auf dieser breiten
Basis konnten wir vier Typen entwickeln, die weiter unten ausführlicher
dargestellt werden. Interviewte Personen Die Untersuchungsgruppe besteht aus 25 gewaltkriminellen Jugendlichen, die in Sachsen-Anhalt in Resozialisierungsmaßnahmen eingebunden waren, in U-Haft oder im Regelvollzug einsaßen. Die wesentlichen Merkmale dieser Stichprobe (Gewaltbegriff, Alter, Ort) werden somit primär durch den rechtlichen Maßstab bestimmt. Es sind Jugendliche, die mindestens ein Opfer körperlich geschädigt bzw. getötet haben und für diese Tat sanktioniert wurden. Die justitiable Einordnung dieser Personen zeigt auch deutlich, dass sie schon am Ende der Degradierungsmöglichkeiten des Staates angelangt sind. Sie blicken alle auf eine lange Reihe von akkumulierten Ausgrenzungserfahrungen zurück. Vor allem aufgrund der Gerichtsverhandlung und der folgenden Inhaftierung nimmt bei jedem Einzelnen die Beschäftigung mit Ausgrenzungserfahrungen einen hohen Stellenwert in der biographischen Erzählung ein. Wir richteten dementsprechend schon bald den Fokus auf diese 'Bearbeitung der Ausgrenzungserfahrungen’ als eine gute Basis für die weiterführende Typisierung. Neben der Untersuchungsgruppe wurden noch 25 weitere Personen zur Kontrastierung interviewt. Je nach Analysestand interessierten uns Personen, die unabhängig von Gewalttaten in starke Ausgrenzungsprozesse involviert waren oder aber legale Gewalt ausübten. Zur maximalen Kontrastierung zogen wir noch Jugendliche hinzu, die weder als gewalttätig galten noch starken Ausgrenzungsprozessen unterlagen. Die Kontrastgruppe umfasst u.a. obdachlose Jugendliche, Punks, Drogenabhängige, ehemalige Werkhofinsassen, aber auch Boxer, Polizeischüler, Bundeswehrsoldaten und einen Zivildienstleistenden. Datenerhebung In der Datenerhebung haben wir uns am biographisch narrativen Interview nach Fritz Schütze [1] orientiert. Im Gespräch steht der Proband eindeutig im Vordergrund. Er ist ein Experte seines Lebens und erzählt aus diesem Wissensfundus. Der Interviewer signalisiert primär durch die Rezeptionssignale, dass er interessiert zuhört. Ist das Narrationspotential ausgeschöpft, wird der Proband durch Nachfragen zu Argumentationen und Selbstinterpretationen angeregt. Alle Gespräche werden aufgenommen und genau transkribiert. Diese Vorgehensweise gibt den Jugendlichen die Freiräume zur Selbstrepräsentation in ihrer Sprache und ihrer Dynamik, die für die spätere Analyse benötigt wird. Nur da, wo die Person tatsächlich etwas von der eigenen Welt preisgibt, besteht die Möglichkeit an sie heranzukommen.
Dies setzt eine gewisse vertrauensvolle Situation voraus, die unter den
besonderen Bedingungen unserer Interviews nicht selbstverständlich
war. So fanden die meisten Gespräche mit der Untersuchungsgruppe im
Gefängnis statt. Die kargen Aufenthaltsräume oder die Zellen ließen
keinen Zweifel daran, dass die von Misstrauen geprägte Situation in
der totalen Institution immer präsent war.
Es gab Probanden, die mit den Anforderungen eines narrativen Interviews überfordert
waren, die, obwohl keine konkreten Fragen gestellt wurden, ihre Argumentationsstränge
präsentierten. Die meisten lösten sich aber davon und ließen
sich von ihrer eigenen Narration treiben.
Dabei nahm ein weiterer die Narration hemmender Punkt einen großen
Stellenwert ein. Um den Masterstaus 'Gewalttäter’ nicht von vornherein
zu bestätigen, hatten wir bewusst den Fokus der Gespräche nicht
auf die Gewalttat gesetzt. Es war klar, dass sich die argumentativen Passagen
ansonsten noch ausgeprägter zeigen würden. Die Interviews mit den Personen der Kontrastgruppe fanden meist unter einfacheren Bedingungen statt. Hier konnten wir den Kontakt selbst gestalten und den Ort mit den Personen aushandeln. Auswertung Die Auswertung erfolgt auf drei Ebenen, die eng miteinander zusammenhängen, sich aber nicht eindeutig voneinander ableiten: Forschungsprozess, Biographien und Typen. Der Forschungsprozess ist nicht starr vorgegeben, sondern entwickelt sich in der Interaktion zwischen Forscher und Forschungsobjekt. Zu Beginn der Studie stand die grobe Fragestellung nach der Bedeutung von Gewalt bei Jugendlichen, die selbst Täter sind und die den Zusammenbruch der DDR noch miterlebt haben. Dies bestimmte unsere Stichprobe und den Fokus. Aber schon nach einigen Interviews wurde klar, dass wir die Bedeutung der Wende völlig überschätzt und die der Ausgrenzung unterschätzt hatten. Unser Fokus, die Fragestellung und die Stichprobe wurden dem angepasst. Gerade in dieser Flexibilität liegt auch ein Vorteil der qualitativen Herangehensweise. Die Dynamik kann beschrieben und analysiert werden. Stärker im Vordergrund steht in unserer Studie aber die Analyse der Biographien. Alle transkribierten Interviews wurden in einem größeren Kreis aus Institutsangestellten und interessierten Personen besprochen. So konnten strukturelle und inhaltliche Unklarheiten geklärt und weiterführende Fragen thematisiert werden. Auf dieser Basis wurden einige Interviews für eine vertiefende Analyse ausgewählt und zu einer biographischen Gesamtdarstellung geführt. Hier werden die Perspektive des Erzählers, seine Bedeutungswelten, Orientierungs- und Handlungsmuster herausgearbeitet. Dabei wird besonderer Wert auf die individuellen Prozessstrukturen gelegt. Sie geben meist das Gerüst vor, das die Biographie in ihrer wesentlichen Dynamik charakterisiert. Neben dieser den individuellen Eigenheiten gerecht werdenden Darstellung stehen die überindividuellen Typen. Ausgangspunkt der Typisierung ist die Hauptkategorie, die sich aus der Fokussierung, also dem eigenen Interesse und dem vorliegenden Datenmaterial, ableitet. Für die Probanden hat sich die Ausgrenzungserfahrung im Zuge der Inhaftierung extrem zugespitzt. Sie haben auf spektakuläre Weise mitbekommen, dass die die gesellschaftliche Normalität repräsentierenden Institutionen sie als Gewalttäter problematisieren und entsprechend sanktionieren. Von dem Kontakt mit der Polizei über die Gerichtsverhandlung bis hin zum Bezug der Zelle sehen sie sich in einer einfachen Konstellation verortet: ihnen steht die gesellschaftliche Normalität gegenüber, die sie als Gewalttäter außerhalb dieses Bereiches stellt. Interessanterweise wird diese Verortung von den Probanden übernommen. Egal wie sie im Einzelnen die staatlichen Institutionen beurteilen, die Definitionshoheit dessen, was zur gesellschaftlichen Norm gehört und was nicht, wird von ihnen nicht in Frage gestellt. Die Probanden unterscheiden sich aber untereinander in der Art und Weise, wie sie diese Position des ausgegrenzten Gewalttäters interpretieren und in ihr Selbstbild integrieren. Dies führt zur Hauptkategorie 'Ausgrenzungsbearbeitung’, die sowohl einen guten Zugang zu den Biographien, als auch zur jeweiligen Bedeutung der angewandten Gewalt bildet. Anhand der Kontrastierung mehrerer Merkmale kristallisieren sich die vier Typen heraus, die hier in wesentlichen Aspekten charakterisiert werden. Zur Veranschaulichung beziehe ich dabei auch einige Biographien beispielhaft mit ein. |
[1] Schütze (1987), Fritz: Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Studienbrief für die Fernuniversität Hagen |
Die vier Typen der Ausgrenzungsbearbeitung | ![]() ![]() ![]() ![]() |
Äußerer Konflikt | ![]() ![]() ![]() ![]() |
Das zentrale Merkmal des Typs 'Äußerer Konflikt' ist die Interpretation der erlebten Ausgrenzung als sozialen Konflikt. Sie sehen sich in einem sozialen Problem verwickelt, in dessen Kern sich die ausgegrenzte Person und die sich in der gesellschaftlichen Normalität verortenden Personen und Institutionen gegenüberstehen. Die harte Grenze zwischen diesen Welten wird ständig definiert, an neue Erfahrungen angeglichen und nach Außen verteidigt. Jugendliche, die ihre Situation entsprechend diesem Typ interpretieren
sind eindeutig und positiv verortet. Sie sind sich mit der Normalität
in ihrem Anderssein einig, wehren sich aber vehement gegen die Degradierungen.
In diesen Interviews findet sich häufig der Tonfall des zu Unrecht
gedemütigten. Gewalt ist hier Ausdruck von Handlungsfähigkeit. Es gibt ein Problem
und das wird mittels Gewalt gelöst. Einflussnahmen von Außen erscheinen hier als Angriffe auf die Identität. Ihnen soll etwas genommen werden, dass sie zu Recht von der Normalität unterscheidet. Die Normalität kann ihnen nicht das bieten, was die Gruppe für sie bedeutet und somit achten sie voller Misstrauen darauf, nicht von ihrer Position abgebracht zu werden. Oskar Der Jugendliche Oskar ist ein gutes Beispiel für diesen Typ. Neben
dem verunsichernden Familienleben integriert er sich in eine rechte Skinszene.
Im Zentrum steht hier das 'zusammen machen' und 'zusammen sein'. Nach
einem gemeinsamen Überfall auf eine Punkfete, bei der ein Punk getötet
wird, schafft Oskar den Schritt vom Mitläufer ins Zentrum der Gruppe.
Im Interview präsentiert er sich als Pressesprecher der Szene.
So sehr sich Oskar im Konflikt mit der Normalität sieht - er geht
nicht mit Gewalt gegen sie vor. Er ist kein Rebell oder gar Terrorist.
Er hat Angst vor dem Chaos und will die Ordnung stärken und nicht
zerstören. |
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Innerer Konflikt | ![]() ![]() ![]() ![]() |
Normalität und Abweichung werden in
diesem Typ mit eigenen Persönlichkeitsanteilen identifiziert, die
sich konflikthaft gegenüber stehen. Die eigene Identität wird
als widersprüchlich erlebt. Diese Jugendlichen sind häufig in Familien aufgewachsen, die sich in der Mitte der Gesellschaft verorten würden. Die Eltern haben interessante Berufe und konnten ihnen auch schon zu DDR Zeiten materiell gut versorgen. Demgegenüber scheint die emotionale Bindung zu den Elter kaum verständlich und fragil zu sein. Sie fallen irgendwann als problematisch auf und ihnen wird nahe gelegt dieses Merkmal im Gegensatz zur restlichen Familie als individuelles Merkmal anzunehmen. Sie sind somit aus der die Normalität repräsentierenden Familie herausgefallen.
Diese Jugendlichen sind hin- und hergerissen: zum einen suchen sie die
Nähe zur Normalität und zum anderen wissen sie, dass das Leben
auf der Straße eher zu ihnen passt. Im Gegensatz zum Äußeren
Konflikt wird dies Leben im Abseits nicht positiv erlebt, sondern als
Ausdruck der eigenen Schwäche. Gewalt hat hier meist einen starken expressiven Charakter. Im Gegensatz zum Äußeren Konflikt erleben sie die Widersprüche nicht außerhalb ihrer Person, sondern als Teil der Identität. Sie leiden unter großen inneren Spannungen, die sie u.a. mit Gewalt bearbeiten. Typisch ist hier also nicht die politisch begründete Tat, als vielmehr die Schlägerei unter Alkoholeinfluss. Jugendliche, die ihre Situation primär entsprechend dem Inneren Konflikt interpretieren sind sicher Einflussnahmen von Außen am besten zugänglich. Sie suchen die Anerkennung durch die Normalität und begreifen Sanktionen durchaus als berechtigten Einwand gegen die eigene Lebensführung. Zu bedenken ist aber, dass sie diese Anerkennung in der Szene schon längst haben. Egal wie sie sich anstrengen würden, in der Normalität ständen sie in der Beliebtheitsskala ganz unten. Dies verbunden mit der Selbsteinschatzung leicht verführbar zu sein macht einen Rückfall trotz aller guter Vorsätze wahrscheinlich. Stefan Stefan kann seinen Eltern nur vorwerfen, dass sie ihn zu wenig sanktioniert
und materiell zu stark verwöhnt hätten. Er versteht nicht, warum
er so anders ist wie sie und stellt die Vermutung in den Raum evtl. nicht
das leibliche Kind zu sein. |
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Harry ist auch ein gutes Beispiel für die Interpretation als Inneren Konflikt. Einen ausführliche Beschreibung kann unter 'Harry - eine Biographie' nachgelesen werden. |
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Ausblendende Distanz | ![]() ![]() ![]() ![]() |
Im dritten Typ treffen zwei Welten aufeinander, die jeweils Anspruch auf Normalität erheben. Dieser Konflikt wird aber nicht ausgetragen. Vielmehr zieht sich der Jugendliche in seine von den Anderen ausgegrenzte Welt zurück. Die Welt der gesellschaftlichen Normalität wird weitgehend ausgeblendet. Sie erscheint als fremdes Teil der Gesellschaft, die wenig mit der eigenen Person zu tun hat. Die eigene Welt bleibt eindeutig und in sich stimmig. Diese Jugendlichen sind in marginalisierten Familien aufgewachsen. Ganz
im Sinne einer primären Sozialisation wird diese Familie aber in keiner
Weise in Frage gestellt. Die Gewalt ist hier primär ein männliches Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Nicht die von starken Spannungen getriebene Schlägerei, sondern der instrumentelle Raub steht hier im Vordergrund. Die Jugendlichen haben gelernt, dass der Raub eine Möglichkeit ist, an Geld zu kommen. Sanktionen stellen das gewalttätige
Verhalten nicht in Frage. Sie zeigen aber an, dass sich die Person zu
weit aus der eigenen Welt herausbewegt hat. Sie sind in den Kontakt
mit dem Einflussbereich der Normalität gelangt. Ihr Vergehen besteht
nicht in der Gewalt, sondern in der Missachtung der Grenze der eigenen Welt. Jack Jack lebte nach der Scheidung der Eltern mit seiner Schwester, dem Vater
und dessen Mutter zusammen. Sein Vater ist sein umfassendes männliches
Modell. Er ist der respektable Lehrer, der ihm auch durch häufige
körperliche Misshandlungen die Möglichkeit männlichen
Verhaltens aufzeigt. Jack leidet unter den Schlägen, geht aber davon
aus, dass sie ihm in seinen Leben als harte Schulung nur nutzen.
Als Jack 14 Jahre alt ist zieht die Oma aus. Die Schwester kann ihren
Part nicht übernehmen und so kommt die Familie aus dem Gleichgewicht. |
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Akzeptierende Distanz | ![]() ![]() ![]() ![]() |
Auch in dem Typ Akzeptierende Distanz spielt die Separation eine große Rolle. Die Grenze zur Normalität hat dabei den Charakter eines unüberwindlichen Grabens. Die Trennung wird als schicksalhaft gesehen und hingenommen. Im Gegensatz zur Ausblendenden Distanz wird es hier als durchaus sinnvoll erachtet, den Graben und somit auch die Gegenseite zu verstehen. Es gibt keine Flucht vor dieser Grenze, aber im Gegensatz zu den Konflikttypen wird auch nicht versucht sie anzugehen. Der Graben ist eine Demarkationslinie, die gesehen, aber nicht bearbeitet wird. In Bezug auf diese Grenze gibt es keine ausgesprochene Bewegungsrichtung. Auf dem Gebiet innerhalb der Grenze ist jede Bewegung möglich und eventuell sinnvoll. Es geht darum, in dem statisch begrenzten Raum seinen eigenen Weg zu finden und diesen zu gestalten. Diese Jugendlichen kommen ebenfalls häufig aus marginalisierten Familien. Sie beginnen aber meist schon früh eine Karriere durch verschiedene Heime. Zum einen erleben sie diesen institutionellen Bereich als Schutzraum z.B. vor der Gewalt des Vaters, zum anderen leiden sie unter der Trennung von der Familie. Sie erleben ihre Welt schon sehr früh als brüchig und widersprüchlich. Es gibt kein eindeutiges Orientierungsmodell einer primären Sozialisation. Neben der Welt der Herkunftsfamilie und der des Heimes kommt häufig noch die Welt des Lebens auf der Straße hinzu. Sie lernen früh sich in verschiedenen Welten zu orientieren.
Spätestens in der Schule wird klar, dass alle Welten in die sie integriert
sind, Welten des Abseits sind. Dies gilt für die marginalisierte
Familie, das Leben auf der Straße aber auch für die Heime. Aufgrund der Brüchigkeit ihrer äußeren Bedingungen sind diese Kinder und Jugendlichen weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen. Alle von außen angebotenen Modelle werden Ihrer widersprüchlichen Situation im Abseits nicht gerecht. Dies führt zu einer starken Individualisierung. Sie investieren sehr viel Energie in die Orientierung und werden zu ausgesprochenen Experten des Lebens im Abseits. Sie sehen sich von den Ressourcen, den Möglichkeiten, aber auch von den Regeln der Normalität ausgeschlossen. Sie suchen ständig nach den Ressourcen im ausgegrenzten Bereich und entwickeln Regeln, die der eigenen Situation angemessen erscheinen. Hier liegt häufig ein ausgeprägtes individualisiertes Nutzen Kalkül vor. Das was sich für die eigene Situation als nützlich erweist ist angemessen. In diesem Sinne ist dieser Typ gut an eine postmoderne Gesellschaft, in der übergeordnete Orientierungen an Bedeutung verlieren, angepasst. Gewalt hat hier oft einen starken instrumentellen Charakter. Sie muss vor der Normalität nicht legitimiert werden, sondern sich als effektiv erweisen. Sanktionen werden als Rahmenbedingung angesehen, die die eigene Position
im Abseits unterstreichen. Aufgrund der institutionellen Karriere kennen
sie den Doppelcharakter von Schutz und Sanktion genau. Dass der Sanktionscharakter
der Institutionen im Laufe der Zeit immer stärker wurde ist nicht
angenehm, stellt die grundsätzlichen Koordinaten aber auch nicht
in Frage. Achim Achim ist mit einem ihn ausgiebig misshandelnden Vater aufgewachsen. Neben dem Vater tritt die behinderte Mutter in den Hintergrund. Ab dem sechsten Lebensjahr wohnt er die Woche über im Heim, am Wochenende häufig Zuhause. Ist Achim in der Familie erleidet er ohnmächtig die Übermacht des brutalen Vaters. Im Heim lernt er eine Struktur kennen, in der er sich einrichten kann. Auch mit einigen Angestellten kann er offen über seine empfundene Notlage sprechen. Kern dieser Notlage liegt in dem empfundenen Auftrag, die Mutter von dem Vater zu befreien. Achim schmiedet ständig Pläne, diesen Auftrag zu erfüllen. Er sucht Unterstützung bei seinen Kumpels und bei der Polizei, aber alle scheitern an der Übermacht des Vaters.
Er ist auf sich selbst zurückgeworfen und hält auch die Nutzung
einer Pistole für gerechtfertigt. Seine Pflegemutter macht ihm demgegenüber Schwierigkeiten. Sie will ihn so schnell wie möglich aus dem Gefängnis herausholen und in die Arbeitswelt integrieren. Dies sind beides Schritte, die ihn Achims Koordinaten ohne Bedeutung sind. |
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